Interview mit Alain Bornstein

Alain Bornstein, Sohn von Ernst Israel Bornstein, 1971 in München als jüngstes von drei Kindern geboren, lebt und arbeitet in London als Anwalt.  Er verliert mit 7 Jahren seinen Vater, was ein tiefer Einschnitt in seinem Leben ist. Er sieht seine Verpflichtung als Sohn eines ehemaligen KZ-Häftlings darin, das Schicksal seines Vaters im Bewusstsein der Menschen wachzuhalten. Dreh- und Angelpunkt des Gesprächs ist die Frage, ob die Zuschreibung des Begriffs  „Second Generation“ auf seine Person zutrifft. Das Interview mit ihm fand im Juli 2019 in München in der Wohnung seiner Mutter Renée Bornstein statt.

 

Anfänglich ist Alain Bornstein etwas zögerlich, er macht den Eindruck, als fühle er sich in der Interview-Situation nicht ganz wohl.  Seine Befürchtung ist, dass er nicht genug zu erzählen hat und sich das Interview mit ihm nicht lohnt. Er habe sich aber verpflichtet gefühlt, uns einen Gefallen zu tun, weswegen er dann doch einwilligt.

Gleich zu Beginn kommt Alain auf den Begriff der „Second Generation“ zu sprechen und um die Zuordnung seiner Person dazu, was er ziemlich problematisch findet, denn er sei gerade mal sieben Jahre alt gewesen, als sein Vater starb. Er sei in diesem Alter nicht von den Erlebnissen seines Vaters berührt gewesen, aber natürlich stark von dessen Tod. Über diesen Einschnitt in seinem Leben hätte man aus seiner Sicht eher ein Interview  machen können, das wäre psychologisch sicher interessanter gewesen als das Thema Zweite Generation: „Ich trage keine schwere oder emotionale Bürde mit mir herum, nur weil ich die sog. Zweite Generation bin.“ Er  habe weder psychologische Hilfestellung gesucht noch groß über seine Gefühle gesprochen. Es sei besser das zu begraben, denn letztendlich ändere sich ja nichts an der Tatsache. Die Person ist eben weg. „Das ist eben meine Art, damit umzugehen. Ich behaupte, ich habe kein Trauma als sog. Zweite Generation, aber wenn schon ein Trauma, dann eher, weil ich meinen Vater verloren habe. Das ist ein sehr emotionales Thema, egal ob man Zweite Generation ist oder nicht. Wir sind alle Kinder unserer Eltern.“

 

Überhaupt, was heißt das schon: Zweite Generation? Man kann die Menschen nicht alle in einen Topf werfen – sie sind alle unterschiedlich und haben unterschiedliche Lebenserfahrungen, so Alain.  Es sei doch ein Unterschied, ob jemand in den 70er Jahren geboren wurde wie er oder in den 40er Jahren.  Es gibt da für ihn zwar keine eindeutige gemeinsame Identität, aber natürlich sei da etwas, was sie auf irgend eine Weise verbindet. Aber das könne er nicht so genau definieren.

Er fühlt sich auf jeden Fall vom Schicksal seines Vaters berührt, aber nicht traumatisiert. Das Trauma existiere nicht bei ihm sondern beim Vater.

Auch die Schwestern fühlten sich nicht traumatisiert sondern ganz normal und sie bräuchten keine Hilfe. Die direkt nach dem Krieg Geborenen hätten sicher mehr unter dem Trauma ihrer Eltern gelitten als die später Geborenen wie er, denn die Eltern hätten noch nicht genug Zeit und Möglichkeiten gehabt, ihr eigenes Trauma zu bearbeiten.

Der Vater hätte ihnen als Kinder nicht sehr viel erzählt – und wenn, dann eigentlich nur von den schönen Seiten seiner eigenen Kindheit; er wollte wohl nicht, dass seine Kinder in jungen Jahren schon von solchen schlimmen Erlebnissen erfuhren. Und wenn die Kinder fragten, wie es im Krieg für ihn war, hätte er immer gesagt: „Wenn du 13 bist, wirst du mein Buch (Die lange Nacht) lesen.“

 

Heute, da die Elterngeneration fast gänzlich verschwunden ist, fühlt Alain Bornstein sich in der Verantwortung, nämlich das zu tun, was früher auch sein Vater tat. Er geht zu allen möglichen Gedenkveranstaltungen, bei denen er die Reden der Verantwortungsträger, wie er sagt, schon auswendig kennt, genauso wie die Rituale dieser  Zeremonien, die einen eigentlich berühren sollen. Jedes Jahr sei es das Gleiche und erschöpfe sich häufig in Wiederholungen und Plattitüden. Aber er geht dahin, damit nicht nur 5 oder 10 Leute dasitzen.  Doch es sei keine emotionale Angelegenheit für ihn.

Wenn aber noch Überlebende dabei seien, die von ihren Erlebnissen damals erzählten, dann könnten solche Veranstaltungen jedoch auch berührend sein. Er versucht auch seinen Kindern zu vermitteln, dass es ein Privileg ist dabei zu sein und dass das nicht mehr lange möglich sein wird.

Zur Gedenkstätte Leonberg hat Alain Bornstein allerdings ein besonderes Verhältnis. Als er sie das erste Mal besuchte, konnte bzw. wollte er den ganzen Tag nichts essen, da es für ihn ein emotional sehr aufwühlender Tag war. Die Gedenkstätte an sich, genauso wie Auschwitz, sei ja ein schön angelegter Ort, so wie ein „englischer Park“, aber es sei eben auch ein Ort, wo die Grabstätten von Angehörigen sind oder waren. Das stehe im Gegensatz zum Fernsehen, wo man langsam abstumpfe, wenn man Berichte über dieses Thema verfolge. Der Unterschied zwischen denen, die es persönlich erlebt haben, und der zweiten Generation, ist für ihn klar – „es war nicht unsere Tragödie“. Alain betont, dass er nur von sich spricht, wie es andere empfinden, kann er nicht sagen. Über seine seine Schwester Naomi z.B erfahren wir, dass sie sehr in das Thema involviert ist. Sie geht oft in Schulen und zu Veranstaltungen, spricht über den Holocaust und über die Lagerbiografie des Vaters (Die lange Nacht). Ganz im Gegensatz zu ihm, der es mehr als Pflichtschuldigkeit gegenüber dem Vater ansieht. Zweite Generation sei eben nicht Zweite Generation. Seine Schwester und er stammten zwar aus derselben Familie, seien aber ganz unterschiedlich betroffen. Die andere Schwester, Muriel, sei eher so wie er. „Wir sind unterschiedlich alt, befinden uns in unterschiedlichen Lebensabschnitten und gehen unterschiedlich mit dem Thema um. Ich z.B. gedenke drei- bis viermal im Jahr bei einem Anlass, dann aber stecke ich es wieder in die Kiste, und das Leben geht weiter. Ansonsten würde es mich wie eine dunkle Wolke umhüllen.“

 

Für das Engagement der Gedenkstätte hat er großen Respekt. Dass sie das alles auf die Beine gestellt hat, obwohl sie sicher nicht viel Unterstützung von der Stadt bekommen hat, findet er bemerkenswert. Und dass sie diese Erinnerungsarbeit leiste, sei bewundernswert. Die Leute könnten ihre Zeit sicher auch mit Schönerem verbringen.

Sein Vater sei, als er das erste Mal in den sechziger Jahren in Leonberg war, sehr enttäuscht gewesen, dass hier nichts auf das ehemalige KZ mehr hindeutete. Sicher wäre er sehr glücklich gewesen, wenn er von den Gedenktafeln erfahren hätte, die es jetzt dort gibt.

Als er in Leonberg war, habe er versucht sich vorzustellen, was sein Vater alles durchgemacht hatte – habe versucht, sich das Unvorstellbare vorzustellen. Wenn er anderen etwas darüber erzählt, dann versucht er, das Ganze nicht emotional zu besetzen.

Kurzum: „Ich fühle mich zum Erinnern verpflichtet, und das beeinflusst einen natürlich und nimmt einen mit.  Wenn dem nicht so wäre, wäre man ja kein normales menschliches Wesen. Aber man ist von dem mitgenommen, was die Eltern durchmachen mussten und nicht davon, wie es einem selbst damit ergeht.  Ich musste und muss nie etwas durchmachen. Es ist ihre Tragödie, nicht meine. Total erschütternd und unfassbar.“

Mit seinen Kindern hat Alain schon über das Thema geredet, aber nicht über seine Gefühle dazu. Er redet, wie er meint, grundsätzlich nicht gern über Gefühle, vor allem wolle er sich nicht mit seinen eigenen Befindlichkeiten nach vorne drängen, denn schließlich gehe es ja darum, die Geschichte des Vaters fortzuschreiben. Alles andere würde er als narzisstisch empfinden. Aber vielleicht sei das auch eine typisch männliche Eigenschaft, seine Gefühle zu verbergen. Immerhin aber habe er seine Mutter dazu gebracht, den Enkeln von ihrem Schicksal zu erzählen, er jedoch halte sich bei diesem Thema zurück.

Mit Leuten, die einen ähnlichen Hintergrund haben wie er, spricht er sehr selten, und wenn, dann nur indirekt.

Er ist froh, dass seine Eltern nie gehasst haben, auch die Deutschen nicht. Deswegen war der Vater nach dem Krieg auch nicht ausgewandert, sondern war in Deutschland geblieben, hatte sich als Zahnarzt in München niedergelassen und war in der jüdischen Gemeinde sehr aktiv. Natürlich, so Alain, hätten die Täter rechtzeitig bestraft werden müssen. Jetzt sei es zu spät, da fast alle gestorben sind. Wenn heute noch ein 95-jähirger bestraft werde, sei das gut so, denn es sei ein Zeichen gegen die Holocaust-Leugnung – egal ob er nun tatsächlich im Gefängnis landet oder nicht. Das sei ihm gefühlsmäßig egal. Er beschäftige sich innerlich nicht viel mit diesem Thema, „es frisst mich nicht auf“.

Für Alain ist klar: Man kann nicht die nachkommenden Generationen bestrafen für etwas, das sie nicht zu verantworten hatten. Viele Jugendliche verstünden heute oft nicht, was Geschichte mit ihnen zu tun habe.  Von daher sei es schon wichtig, immer wieder darüber zu sprechen. Die Verbindung zu heute aktuellen Dingen bzw. Situationen herzustellen, um daraus etwas zu lernen, sei wichtig, gleichzeitig aber auch schwierig, denn es sei nun mal nicht dasselbe.


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