Interview mit Marina Brana

Marina Brana, Jahrgang 1951, ist Enkelin und Nichte der ehemaligen KZ-Häftlinge Giuseppe Covacich und Giuseppe Covacich jun. Sie wohnt in Triest und war bis zu ihrer Pensionierung Ärztin bei der Gesundheitsbehörde von Triest. Wir besuchten Sie in ihrer Wohnung. Das Interview fand mit einer Übersetzerin statt. 

Zu Beginn des Gesprächs erzählt Marina Brana, dass die ganze Familie ihrer Mutter im KZ war – Großmutter und Mutter in Auschwitz, Großvater und Onkel in Leonberg. Zudem war ihr Schwiegervater Kriegsgefangener in Deutschland. Ihn hatte sie allerdings nie kennengelernt. Von den KZ-Aufenthalten ihrer Angehörigen hat sie allerdings nur wenig erfahren, denn es wurde nur wenig darüber in der Familie gesprochen, außer es fielen ab und zu spontane Bemerkungen. Das meiste erfuhr sie erst vor zwanzig Jahren, nachdem der Onkel von seinem Besuch in Leonberg zurückgekommen war.

Sie bedauert es, früher nicht mehr nachgefragt zu haben. Denn jedes Mal, wenn sie ihn sah, so Brana, musste sie an das Thema denken, aber sie hätte halt nicht gefragt.

„Jetzt würde ich schon sagen, dass es schade ist, dass sie nicht mehr erzählt haben. In der Jugend hat man einfach andere Interessen und will die alten Geschichten nicht hören.“

Das erste Mal, dass sie von dem Thema hörte, war in ihrer Kindheit, als die Großmutter etwas davon erzählte. Die sei dabei ganz behutsam, kindgerecht vorgegangen, so dass sie die Tragik der Geschichte gar nicht erfassen konnte. Ihr ist klar, dass man als  Kind so etwas noch nicht verstehen kann. Doch ist ihr ein unbestimmtes Gefühl der Angst geblieben, so dass sie zum Beispiel Kriegsfilme oder Kriegsdokus nicht gut ertragen kann, vor allem wenn schreiende Deutsche dabei seien. „Ich denke darüber nach, wie das Leben damals war und was die Leute wohl dachten.“ Es seien zwar immer die gleichen Filme, aber trotzdem verursachten sie dieses ungute Gefühl bei ihr. Sie ist der Überzeugung, dass sie durch die Erlebnisse der Mutter auch in irgendeiner Weise etwas erlitten hat.

Auch von ihrem Onkel hat sie einiges erfahren, vom Großvater allerdings weniger, da er nicht sehr redselig war. Und natürlich auch von der Mutter. Da ging es vor allem um die Nummer des KZ-Auschwitz, die einen ganz besonderen Stellenwert hatte – „als unauslöschliches Zeichen, u.a. weil man sie nie ablegen konnte“. Irgendwann habe man sich an diese Nummer gewöhnt, aber sie blieb immer von großer Bedeutung.

Heutzutage überlegt sie sich, was sie mit den Erinnerungsstücken machen soll, z.B die Briefe der Mutter an den Vater (von denen sogar schon Kopien existieren), weil die schon immer da waren und einfach zur Familie dazugehören. Anhand von Tagebüchern etwa versucht sie jetzt Dinge zu rekonstruieren. Vielleicht wird sie diese und andere Sachen später mal an einen Gedächtnisverein geben.

Denn was ihre eigene Tochter damit machen würde, ist offen. Die sei in eine andere Welt geboren und habe deshalb einen anderen Blick auf die Vergangenheit. Sie redet manchmal mit ihrer Tochter über ihre Erlebnisse, sofern sich die Gelegenheit ergibt, aber sonst mit niemandem weiter, weil es einfach niemanden mehr gibt. Ihre Schwester ist inzwischen krank und sie kann deshalb nicht mehr mit ihr reden, auch wenn sie sich früher beide gemeinsam für dieses Thema interessiert hätten.  Auch mit ihrem Cousin, der ja das Kind eines Überlebenden war, hat sie nie darüber geredet. Und bei ihrer Nichte stößt sie in dieser Hinsicht auch nicht auf allzu großes Interesse. Höchstens nochmal bei ehemaligen Arbeitskollegen oder Freunden, die die Familie kannten.

Für Marina B. ist die Erklärung dafür einfach: Die unterschiedliche Art der Verarbeitung und des Umgangs mit dem Thema. Als Beispiel nennt sie die Frau eines Cousins ihres Vaters, die als KZ-Überlebende später sehr aktiv in der Gedenkarbeit war. In ihrer Familie aber sei es anders gewesen. Ihren Eltern ging es nach dem Krieg sehr gut. Deswegen, so ihre Vermutung, wurden solche Themen so gut wie ausgeklammert. Es wurde kaum darüber geredet – vielleicht um zu vergessen oder vielleicht hätten die Erwachsenen nur unter sich darüber geredet  und nicht vor ihr und ihrer Schwester. Ihres Wissens nach waren die Eltern und auch die Großeltern nie beim Psychotherapeuten (wie viele andere), aber ihre Hand könne sie für diese Aussage natürlich nicht ins Feuer legen, denn als Kind nehme man manche Dinge einfach nicht so wahr.

Sie war deshalb froh, als der Onkel auf ihrer gemeinsamen Dachau-Fahrt endlich zu reden anfing, so dass sie auch etwas aufschreiben konnte. In seinen letzten Jahren (Anm. Giuseppe Covacich jun. verstarb am 28.1.2020) redete er dann mehr und mehr über seine Erlebnisse im KZ: „Es war aber nicht einfach, denn sobald man ihn etwas fragte und er emotional wurde, war dann gleich wieder Schluss“.  Sie kann sich jedenfalls nicht erinnern, dass man ihr irgendwelche konkreten Sachen erzählt hätte, so z.B. wie und wo die Häftlinge schliefen, was ihnen durch den Kopf ging, wenn sie abends schlafen gingen, was am darauf folgenden Tag passierte, was sie sich für eine Vorstellung von der Zukunft machten, usw..

Anhand dessen aber, was der Onkel erzählte, hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er die Arbeit an der Tragfläche der ME 262 sogar interessant fand. Natürlich bezog sich das nur auf die Hochtechnologie des Produkts und nicht auf das Arbeitsumfeld, denn die Ernährung  und die hygienischen Bedingungen waren ja miserabel. Von den Erzählungen ihrer Großmutter und Mutter, die zusammen im selben Lager waren, blieb bei ihr hängen, dass diese sich gegenseitig immer unterstützten, wo sie nur konnten. Laut Aussage der Mutter hatte es dort kaum Misshandlungen gegeben, lediglich bei denen, die nicht gearbeitet hätten. Eine offene Antipathie gegenüber den Deutschen hatte es wohl nicht gegeben.  Und der Onkel freute sich sogar über die Rente aus Deutschland.

Ihre eigenen Erfahrungen bei den Besuchen in Mauthausen und Dachau beschreibt Marina B. als beeindruckend. Besonders das Krematorium. Vieles erinnerte sie an Ausschnitte aus Filmen oder an Erzählungen in der eigenen Familie.  Also viel unmittelbarer, als wenn man es nur in Schulbüchern gelesen hätte. Sie konnte sich dadurch in die Lage derer versetzen, die das erleiden mussten, was sie zu der Frage brachte, was sie an deren Stelle getan hätte. Neben den körperlichen Leiden der Häftlinge wie Hunger und Krankheiten, sieht Brana vor allem auch deren psychische Probleme – nicht zu wissen, wie die Zukunft aussieht, was einen erwartet und ganz allgemein die Angst – eine schreckliche Situation.

Doch als Zeitzeugin sieht sie sich deshalb nicht, denn sie habe es ja nicht selber durchgemacht. Schon allein das, was die Eltern an sie weitergegeben hätten, sei ja etwas anderes, als was sie wirklich erlebt hätten, je nachdem wie es der Einzelne verarbeitet hätte. Als Zeitzeugin sieht sie sich vielleicht für andere Geschehnisse, so etwa für die 68er Jahre. Sie findet es schade, dass mit dem Verschwinden der eigentlichen Zeitzeugen auch die Kenntnisse über die Zeit damals verschwinden. „Man hätte diese traurigen und schrecklichen Erfahrungen besser bewahren sollen. Denn man hofft ja immer, dass sie der Zukunft dienen, damit sich so was nicht wiederholt.“

Marina bedauert vor allem auch, dass in ihrer Schulzeit nicht über dieses Thema gesprochen wurde, trotz vieler gebildeter Lehrer an ihrem Gymnasium, z.T. auch solcher, die im Widerstand waren. Aber sie ist überzeugt davon, dass sich damals auch niemand für ihre Erfahrung als Nachkommin interessiert hätte. Statt dessen wurden im Geschichtsunterricht die Punischen Kriege so ausführlich behandelt, dass man noch nicht einmal bis zum Ersten Weltkrieg kam. Seltsamerweise war es ausgerechnet die Grundschule, in der sie ein paar Dinge über den Ersten Weltkrieg  erfuhr.

Heute, so Marina, haben sich die Dinge geändert– in der Schule wird darüber gesprochen und alle jungen Leute fahren nach Auschwitz oder nach Dachau. In Dachau z.B. wimmelt es geradezu von italienischen Schülern. 1987, als sie dort war, sei dieser Ort schwer zu finden gewesen, niemand wollte einem den Weg dahin sagen. Sie hätten auch keine anderen Besucher dort gesehen, genauso auch in Mauthausen nicht.

Marina bedauert, noch nicht in Auschwitz gewesen zu sein. Auch würde sie gern mal nach Leonberg kommen und den „berühmten“ Tunnel sehen. Sie vermerkt positiv, dass es die KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg war, die Kontakt mit ihr aufgenommen hat – ganz im Gegensatz zu Dachau, von denen sie noch nie etwas gehört hat. Gerne würde sie auch andere Nachkommen kennenlernen, aber in Italien kennt sie keine Organisation, wo das möglich wäre außer vielleicht bei der ANED (Vereinigung der Deportierten) oder der ANPI (Partisanen-Vereinigung), bei der Ihre Mutter bis zu ihrem Tod Mitglied war. Sie selber hatte nur lockeren Kontakt zu ANED.

Dass es die KZ-Gedenkstätte in Leonberg gibt, findet sie gut und wichtig. Sie hätte nie geglaubt, dass es in Deutschland eine solche Aufarbeitung gibt. Es sei notwendig, über die Vergangenheit aufzuklären und die Erinnerung zu bewahren, vor allem da auch die Überlebenden verschwinden. Und es sei auch wichtig darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht nur Juden in den Lagern gab, sondern auch viele andere, so wie ihre Vorfahren. Und man solle auch immer darauf hinweisen, dass es eine Geschichte gab, die zum Bösen hinführte, also eine Vorgeschichte.


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