80 Jahre KriegsendeZeitzeugen besorgt: „Der Mensch kann wohl nicht ohne Krieg sein“
Leonberger Kreiszeitung 08.05.2025 - 08:00 Uhr
Drei Zeitzeugen des Krieges: Eberhard Röhm, Hermann Schweizer und Walter Rieker (von links). Foto: Simon Granville/Maximilian Kroh/LICHTGUT/Max Kovalenko
80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Befürchtung vor einem neuen Krieg in Deutschland so groß wie lange nicht. Das macht denen Sorgen, die damals dabei waren – und jenen, die in diesem Krieg kämpfen müssten.
In einem der Bücherregale seines Hauses in Leonberg hat Eberhard Röhm noch ein Schulheft aus dem Jahr 1944. Darin, datiert auf den 9. Dezember, hat er im Alter von 16 Jahren einen Aufsatz geschrieben. „Mit welchem Recht halten wir trotz aller Rückschläge fest am Glauben an den Endsieg?“, nennt er den Text damals. „Der Goebbels hätte es nicht besser schreiben können“, sagt der 96-Jährige heute dazu. „Es war Gehirnwäsche, ich habe an Hitlers Wunderwaffen geglaubt.“ Fast auf den Tag genau fünf Monate nach Röhms Aufsatz, am 8. Mai 1945, kapituliert die deutsche Wehrmacht bedingungslos. Der Krieg ist vorbei, Deutschland befreit. 80 Jahre später ist die Welt eine andere – doch der Krieg scheint wieder so nah wie lange nicht.
Die meisten der wenigen verbliebenen Zeitzeugen waren Kinder damals, maximal Jugendliche. Im Kopf geblieben sind die Nächte in den Bunkern, die Luftangriffe, die Erschütterungen, die zerstörten Gebäude. „In der Schule hieß es oft: Luftangriff 15 – dann mussten wir alle raus“, sagt Hermann Schweizer (90), damals wie heute in Gerlingen im Landkreis Ludwigsburg zuhause. Den Befehl hat er noch drauf, die Sirene im Ohr, oft genug hat er sie gehört. Als Ende April die Franzosen in Schweizers Heimatstadt einrücken, empfindet er das mit seinen zehn Jahren eher als Erlösung, denn als Niederlage: „Ich war einfach froh, dass der Beschuss vorbei war.“
Eberhard Röhm lässt die NS-Zeit dagegen nie los. Aus dem überzeugten Jung-Nazi ist ein Kämpfer für den Frieden geworden, der 1999 die KZ-Gedenkstätte in Leonberg mitgründet. In der Kriegszeit führt er als Oberschüler einen eigenen Jungvolktrupp und steckt wöchentlich den Frontverlauf mit Nadeln auf einer Karte ab. „Wie arm ist doch unser Volk geworden und wie tapfer hat es sich geschlagen! Wie sehr ist es betrogen worden“, notiert er am 8. Mai in sein Tagebuch – der 16-jährige Röhm ist überzeugt vom Verrat der Italiener und Ungarn an den Deutschen. Das Kriegsende erlebt er im oberschwäbischen Tettnang.
Dort übernimmt 1945 wie in der Region Stuttgart zunächst die französische Armee die Kontrolle. Eindruck hinterlassen bei den Zeitzeugen die marokkanischen Soldaten, die an der Seite der Franzosen kämpften. „Sie waren netter zu uns als die weißen Franzosen, haben uns Brot und Seife gegeben, wenn wir ihre Wäsche gemacht haben“, erinnert sich Walter Rieker (90) aus Feuerbach. Doch auch Plünderungen, Vergewaltigungen und vereinzelt Erschießungen gehören in den ersten Nachkriegswochen zur Tagesordnung.
Die Überzeugung wächst: Nie wieder Krieg
Als Zehnjähriger wird Rieker damals mit den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg konfrontiert. „In der Stadt hingen Plakate mit Bildern aus den Konzentrationslagern“, sagt er. „Außerdem hat mein Vater mir vom Massaker in Oradour-sur-Glane erzählt.“ Dort hatte eine Einheit der Waffen-SS im Juni 1944 innerhalb weniger Stunden mehr als 640 Dorfbewohner, davon waren zwei Drittel Frauen und Kinder, getötet.
Schilderungen der deutschen Verbrechen bleiben in den Jahren nach dem Krieg die Ausnahme – in Westdeutschland beginnt die Zeit des Schweigens und Verdrängens. Selbst, dass er kurz vor Kriegsende die weiße Flagge über der Gerlinger Petruskirche gehisst und so wohl eine Zerstörung der Stadt verhindert hatte, erzählt Hermann Schweizers Vater seiner Familie erst nach Jahren: „Er hat von den Nazis nie etwas gehalten, war immer Kriegsgegner. Aber von dieser Aktion habe ich damals trotzdem nichts gewusst.“ Wichtiger ist zunächst, die Nachkriegsjahre durchzustehen. In Schweizer, Röhm und vielen anderen wächst in dieser Zeit eine Überzeugung heran: Nie wieder Krieg.
Im Februar 2022 eskaliert mit dem russischen Angriff die Situation in der Ukraine. Drei Jahre später wird Donald Trump zum zweiten Mal US-Präsident – und demütigt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus vor den Augen der Welt. Es sind Ereignisse, die den Tonfall verändern, in dem in Deutschland über Aufrüstung und Krieg gesprochen wird. Das besorgt die Zeitzeugen von damals.
„Ich bin erschrocken, auch über unser Land“, sagt Eberhard Röhm. Als überzeugter Pazifist hat er in den 1980er-Jahren am US-Stützpunkt im württembergischen Mutlangen gegen die Stationierung von Raketen protestiert. Wenn der 96-Jährige über seine Rolle in der NS-Zeit spricht, ist die Wut spürbar, die er auf sein jüngeres Ich hat.
Über die heutige Weltlage spricht er leise, wirkt ratlos. „Wir sind ja in einer Situation, auf die selbst die Grünen keine andere Antwort mehr als Aufrüstung haben.“
„Wäre ich bereit, für mein Land zu kämpfen?“
Gedanken machen sich nicht nur diejenigen, die den Krieg erleben mussten, sondern auch jene, die ihn nie erleben wollen. In der 10. Klasse des Eberhard-Ludwig-Gymnasiums Stuttgart ist am Dienstag der 8. Mai Thema. „Man stellt sich Fragen, wie es dazu kommen konnte. Aber der Krieg wirkt heute auch weit weg“, sagt Luise Fröhlich (16). Schon häufiger haben sie über den Tag gesprochen, doch in diesem Jahr blickt die Klasse anders auf das Kriegsende.
„Meine Schwester ist in dem Alter, dass sie bei einer Wehrpflicht eingezogen werden würde. Deshalb reden wir da mit unseren Eltern darüber“, erzählt die Schülerin. Zwei Jahre sind es für sie selbst noch bis zum Abitur, wie die Welt dann aussieht und ob es die Wehrpflicht – vielleicht auch für Frauen – gibt, lässt sich kaum vorhersagen. „Ich frage mich schon, ob ich bereit wäre, für mein Land zu kämpfen“, sagt ihr Klassenkamerad Thomas Hack (18).
Thomas Hack (18) und Luise Fröhlich (16). Foto: Maximilian Kroh
Zur Armee mussten Eberhard Röhm, Walter Rieker und Hermann Schweizer nie. Für die Wehrmacht waren sie zu jung, bei Gründung der Bundeswehr zu alt. „Ich war von meinem Vater geprägt, hätte sicher verweigert“, sagt Hermann Schweizer und nickt nachdrücklich. „Wer damals die brennenden Häuser nach Bombenangriffen gesehen hat und heute die Bilder aus der Ukraine sieht, kann nicht verstehen, warum der Krieg sein muss. Aber zurzeit könnte man meinen, der Mensch kann nicht ohne ihn sein.“
Den alten Männern aus der Region Stuttgart ist es ernst mit dem Frieden, Eberhard Röhm nennt ihn seinen Lebenstraum. Die Hoffnung darauf hat er nicht verloren: „Kriege kann man nur gewinnen, wenn zuerst Frieden in den Köpfen und im Herzen einkehrt.“