Angriff auf Leonberg in letzter Minute abgeblasen

von Anja Tröster
Recherche in US-Archiven hat neue Erkenntnisse über das Leonberger KZ erbracht - und darüber, was die Kriegsgegner wussten
Stuttgarter Zeitung, 16. Oktober 2004

LEONBERG. Unermüdlich tragen die Mitglieder der KZ-Gedenkstätteninitiative neue Erkenntnisse zur Geschichte des Arbeitslagers zusammen. Nächste Woche bei der Mitgliederversammlung wollen Renate Stäbler und Eberhard Röhm die wichtigsten Ergebnisse vorstellen.

Wie würde Leonberg aussehen, wäre die Stadt gegen Ende des Krieges massiv unter Beschuss genommen worden - so wie Böblingen oder Sindelfingen? Vielleicht gäbe es keinen Marktplatz, keinen Bahnhof und keinen Pomeranzengarten mehr. Wer weiß, wie viele Tote zu beklagen wären.

Natürlich sind solche Überlegungen müßig. Doch sie erhalten neue Nahrung, wenn man alte Luftaufnahmen der Stadt aus dem Jahr 1944 in den Händen hält, auf denen die Alliierten nicht nur den Engelbergtunnel und die dortige Tragflächenfertigung der Rüstungsfirma Messerschmitt als Ziel anvisierten. Ins Kreuzfeuer geraten wären auch das dazugehörige Arbeitslager südlich des Tunnels, das als Außenlager zum KZ Natzweiler im Elsass gehörte, sowie eine weitere Produktionshalle von Messerschmitt in Leonberg, die sich dort befand, wo sich heute Möbel-Mutschler niedergelassen hat.

Der Historiker Joachim Baur hat bei einer Reise in den National Archives in Washington, USA, entdeckt, dass ein solcher Angriff tatsächlich geplant war. Verwunderlich ist das nicht, denn die ME-262, deren Tragflächen hier gefertigt wurden, sollte als Wunderwaffe im letzten Kriegswinter eingesetzt werden. Fotos aus dem Zeitraum von Mai bis November 1944 belegen, wie gut die amerikanischen Streitkräfte Bescheid darüber wussten, was während des letzten Kriegsjahres in der Tunnelröhre vor sich ging.

Mit Luftbildern, auf denen sämtliche Kirchen und ihre Höhe über Meeresgrund verzeichnet waren, wurden die Piloten auf die Navigation im Tiefflug vorbereitet. Ziel war es, den Tunnel von oben unter Beschuss zu nehmen und zu zerstören, so wie es später mit den Montagehallen von Messerschmitt in Schwäbisch Hall tatsächlich geschah. Offenbar entschied man sich aber gegen einen Angriff. In einem geheimen Informationsblatt, das nicht mit an Bord genommen werden durfte, ist die Rede davon, dass man neue Waffen abwarten wolle.

Eberhard Röhm, der Vorsitzende der KZ-Gedenkstätteninitiative, kann noch gar nicht fassen, wie ergiebig dieser Fischzug in den amerikanischen Archiven war. Auf gut Glück hatte er Joachim Baur losgeschickt, ausgestattet mit einem kleinen Stipendium der Landesstiftung für politische Bildung. Der Historiker hängte eine Woche an sein Auslandssemester in New York an, in der er von morgens bis abends für die Leonberger recherchierte. Es sei Glückssache, dass er so viel gefunden habe, sagte Baur.

Er konnte sich auf Informationen anderer Gedenkstätteninitiativen aus Neckarelz und Kochendorf stützen, beides Standorte von Natzweiler-Außenlagern. Bislang hatten sich die Leonberger darauf konzentriert, die Seite der Opfer zu erforschen. Baur folgte nun erstmals der Spur von Messerschmitt - und stieß auf neues Material.

Dabei fand er nicht nur Fotos und Notizen, die die Planung eines Angriffs belegen. Er fand unter anderem auch eine bislang unbekannte Liste von einem Häftlingstransport mit mehr als 100 Namen. Der jüngste der dort aufgeführten Männer ist ein 16 Jahre alter Schüler.

Ansonsten handelte es sich überwiegend um ältere Fachkräfte - Schlosser, Nieter, Schmiede und Installateure, die von Messerschmitt bewusst angefordert worden waren. Auf der Liste befand sich laut Röhm auch der Name des Norwegers Kúre Kverneland, dem ältesten heute noch lebenden Inhaftierten. Er war vor drei Jahren mit seinem Sohn in Leonberg zu Gast.

Vieles, was nun durch die Dokumente belegt wird, hatte die Gedenkstätteninitiative zwar längst vermutet. Unter anderem die Tatsache, dass Messerschmitt die Maschinen in Sicherheit brachte, bevor man die Häftlinge im April 1945 auf den Todesmarsch Richtung Bayern schickte. Doch für jemand, der sich so lange mit der Geschichte des Lagers beschäftigt wie Röhm, ist es dennoch ein unglaubliches Gefühl, die eigenen Überlegungen schwarz auf weiß bestätigt zu finden.

In die Euphorie mischt sich allerdings auch Ernüchterung. Die Unterstützung für die Arbeit der Initiative lässt nach, wie die Mitglieder feststellen müssen. Im kommenden Jahr möchte die Initiative ihre neue Gedenkstätte am Tunneleingang pünktlich zum 60. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai einweihen - und alle ehemaligen Inhaftierten zu dieser Gedenkfeier einladen. "Es wird vermutlich für viele das letzte Mal sein, dass sie kommen können", glaubt Eberhard Röhm.

Geplant ist, am Tunneleingang eine 28 Meter breite Metallwand zu errichten, auf der sämtliche Namen der KZ-Häftlinge verzeichnet werden. Der Entwurf für die monumentale Erinnerungstafel stammt vom Tübinger Bildhauer Johannes Kares. Die Kosten betragen etwa 50 000 Euro. Bis jetzt gehen nur spärlich Spenden ein - auch wenn darunter namhafte Beträge von so prominenten Förderern wie Richard von Weizsäcker sind. Eberhard Röhm versucht, weiter optimistisch zu bleiben: "Bisher haben wir noch alles gestemmt, was wir in Angriff genommen haben", sagt er zuversichtlich.

Eberhard Röhm und Renate Stäbler informieren über ihre neuen Funde bei der auch für Nichtmitglieder zugänglichen Versammlung der KZ-Gedenkstätteninitiative am kommenden Mittwoch, 20. Oktober, um 19.30 Uhr im Leonberger Samariterstift. In den National Archives ist auch Recherche übers Internet möglich: http://www.archives.gov.


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