Auch die Kirchen haben über den Holocaust geschwiegen

von Martin Reinkowski
Stuttgarter Zeitung, 27. Januar 2003

Wer hat in der Nazizeit sein Wissen weitergegeben? - Eberhard Röhm von der KZ-Gedenkstätteninitiative spricht zum Gedenktag

LEONBERG. Die Kirchen haben im Dritten Reich früh vom Massenmord an den Juden gewusst. Sie haben zum Teil versucht, ihre Informationen weiterzugeben. An die Öffentlichkeit gegangen sind sie nicht. Das sagt Eberhard Röhm, der zu dieser Frage Forschungen angestellt hat.

"Wer sich damals um die Nähe zu den Opfern bemüht hat, der konnte zu einem sehr frühen Zeitpunkt sehr wohl wissen, was im Gange war. Das war damals nicht anders als heute." Dies ist eine Kernaussage von Eberhard Röhm, und sie wird am Ende des Vortrags bestätigt von einer Dame, die sich als noch ein paar Jahre älter als der Pfarrer im Ruhestand zu erkennen gibt. "Wir hatten einen großen jüdischen Freundeskreis", sagt sie. "Und mein Vater hat gemeint: Von wegen Umsiedlung. Die kommen ins KZ und werden umgebracht."

Er selber sei damals, als 1941 und 1942 die Massenvernichtung der Juden begann, 15 Jahre alt gewesen, sagt Röhm vor rund 50 Zuhörern im Stadtmuseum Leonberg, und er habe nichts davon gewusst. Sogar ein Klassenkamerad der Nachkriegszeit, der nur acht Kilometer von Auschwitz-Birkenau entfernt als Flakhelfer stationiert gewesen war, habe damals nicht erfasst, was sich in dem Vernichtungslager abspielte.

"Alle Welt schwieg", hatte Röhm, der die Leonberger KZ-Gedenkstätteninitiative leitet, seinen Vortrag aus Anlass des heutigen Holocaust-Gedenktages betitelt. Das sei provokant, sagt er nun, "ganz so schlimm war es nicht". Denn einige hätten nicht geschwiegen, und er führt eine Reihe von Beispielen auf, die belegen sollen, dass die evangelische Kirche damals durchaus nicht tatenlos zugeschaut hat. "Das ist mein Thema", sagt er.

Einen "Kronzeugen der Massenvernichtung" nennt er Kurt Gerstein, den SS-Obersturmführer, der im August 1942 einem schwedischen Diplomaten von den Vergasungen in den Vernichtungslagern Belzec und Treblinka berichtet hat. Er habe dabei "tiefe religiöse Erschütterung erkennen lassen", so Röhm. Folgen habe der Vorstoß Gersteins aber keine gehabt, ebenso wenig sein Vorsprechen beim päpstlichen Nuntius in Berlin.

Ein anderes Beispiel ist der damalige evangelische Landesbischof von Württemberg, Theophil Wurm. Obwohl Wurm selber zum Teil "antisemitische Vorstellungen" pflegte, habe er 1943 an Parteistellen und Reichsministerien geschrieben, schließlich sogar an Hitler und die Reichsregierung - um dagegen zu protestieren, dass nun auch die mit "Ariern" verheirateten Juden vernichtet wurden. Die Reichskanzlei habe Wurm schließlich mit dem Schlimmsten gedroht, weshalb er sich fortan zurückgehalten habe.

Die Genfer Büros des Jüdischen Weltkongresses und des Ökumenischen Rats der Kirchen haben laut Röhm schon 1942 Informationen über den Holocaust nach England und in die USA weitergegeben, was jedoch keine Folgen gehabt habe. Immerhin sei der Nordamerikanische Kirchenbund Ende 1942 zu der Erkenntnis gekommen, dass das Deutsche Reich die "planmäßige Ausrottung der Juden in Europa" betreibe.

Eberhard Röhm, der an einem Buch zu diesem Thema arbeitet, lässt die katholische Kirche nicht aus. Auch sie sei nicht an die Öffentlichkeit gegangen. "Halten die Alliierten noch viele Akten zurück, aus denen hervorgehen könnte, dass sie zu wenig getan haben?", fragt ein Zuhörer nach dem Vortrag. "Nein", sagt Röhm, "eher der Vatikan."


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