Begegnung mit dem ehemaligen KZ-Häftling Mordechai Noyowitz

Jahresschrift 2002 des Johannes-Keppler-Gymnasiums Leonberg

Die Vorarbeiten leisteten die Leonberger Geschichtswerkstatt und die KZ-Gedenkstätten-Initiative. Man bemühte sich um Spurensuche, knüpfte Kontakte zu Überlebenden, führte Interviews durch und lud sie schließlich nach Leonberg ein.
Diesem guten Beispiel folgte sodann auch die Stadt Leonberg. Anläßlich der Vorstellung des Bandes “Konzentrationslager und Zwangsarbeit in Leonberg” folgten im Oktober 2001 fast 20 ehemalige KZ-Häftlinge der Einladung der Stadt. Unter ihnen auch, erstmals, Mordechai Noyowitz, geboren 1925 in Rumänien, heute lebend in Israel, in der Nähe von Tel Aviv.

Ihn lud ich kurzerhand, von heute auf morgen, in die Klassen 13 und 9 ein. So kam also am Donnerstag, den 25. Oktober 2001, Mordechai Noyowitz zusammen mit Pfarrer Eberhard Röhm für jeweils zwei Stunden in die beiden Klassen. Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum. Die Klassenzimmer waren total überfüllt mit Evangelischen, Katholischen und Ethikern dazu. Selbst auf den Fenstersimsen saßen noch welche.

Und dann erzählte einer, erzählte und erzählte und es wurde mucksmäuschen still. Mordechai Noyowitz erzählte von seiner siebenbürgischen Heimat, von der friedlichen Zeit in ihren Dörfern. Sie lebten einfach, arbeiteten hart und waren zufrieden, um nicht zu sagen: glücklich.

Wie konnte dies geschehen, dass eines Tages Juden auf Lastwagen abtransportiert wurden? Sie hatten keine Zeitungen, kein Radio, natürlich kein Fernsehen. Keine Autos - nur Pferde und Wagen. Niemand im Dorf war vorher informiert und hat die Dinge kommen sehen.

So kam Mordechai Noyowitz im Juli 1944 ins KZ Auschwitz. Dort war er unter den jungen Arbeitsfähigen, hatte Arbeit und recht und schlecht zu essen. Es folgten die KZ’s Flossenbürg und Groß-Rosen und schließlich vom 16. März 1945 an, nur noch für etwa vier Wochen, das KZ-Leonberg. “Leonberg - das war das schlimmste von allen vier KZ’s”. Wohlgemerkt die letzten Wochen des KZ, als kurz vor dem Ende alles drunter und drüber ging.

Für eine Strafarbeit hätte er damals eine zusätzliche Scheibe Brot bekommen sollen. Sie wurde ihm nicht gewährt. Stattdessen erhielt er Schläge und Beleidigungen. Auf diese Scheibe Brot hat er lange warten müssen. Jetzt hat er sie bekommen bei einem abendlichen Essen. Bei einer kurzen Tischrede erzählte er dies, hielt die Scheibe Brot hoch und verzehrte sie. Eine späte Genugtuung. Eine symbolische Geste, die zeigt, dass die Einladung noch nicht zu spät kam.

Der vitale 77-jährige Mann erzählte in seinem jiddisch gefärbten Deutsch vom Lageralltag, von der Verfrachtung nach Bayern, von der Flucht und schließlich der Ankunft in Israel. Auf Nachfragen zeigte er auch seinen linken Unterarm mit der Tätowierung “A 10408”.

Für viele, auch für mich die erste Häftlingsnummer nicht auf einem Geschichtsbuchphoto, sondern auf der Haut eines lebendigen Menschen. Es entwickelte sich ein munteres hin und her. Am Ende wollte Mordechai Noyowitz nicht nur vom Schrecken und vom Elend erzählt haben, sondern auch von der Lebensart in der Heimat. So fehlte es nicht an eingestreuten jiddischen Witzen und am Ende sang er noch ganz allein ein jiddisches Lied.

Wahrhaftig eine nachhaltige Begegnung, die genug Stoff zum Nachdenken bot. Wir erlebten einen leidgeprüften, aber nicht gebrochenen Menschen, voller Humor und Menschlichkeit. Unvergessliche Stunden!
Pfarrer Peter Hartmann


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