Die bohrende Frage nach dem "Warum" bleibt auch nach 60 Jahren ohne eine Antwort

von Arnold Einholz
Leonberger Kreiszeitung, 10. Mai 2005

LEONBERG - "Er ist mein Bruder", sagt plötzlich Mordechai Nojovits und legt seine Hand auf den Arm von Riccardo Goruppi, als im Gespräch mit der Redaktion die Namen Mühldorf und Kaufering fallen, Lager und Orte, in die sie kurz vor Kriegsende nach der Evakuierung des KZ Leonberg verschleppt wurden. Es sind Stätten gemeinsamen Leidens, die den Juden aus Nordsiebenbürgen und den italienischen Partisanen verbinden.

"Ziel dieser Begegnung ist, dass die junge Generation weiß, welche Verbrechen seinerzeit in Deutschland geschehen sind", sagt Mordechai Nojovits. "Man kann nicht sagen, die junge Generation hat die Verantwortung für die Taten der Eltern oder Großeltern. Aber sie hat die Verantwortung, dass so etwas nicht wieder geschieht." Deshalb habe er seine beiden Enkel mitgebracht, damit sie die Stätte seines Leidens, aber auch das andere, das schöne und gute Deutschland kennen lernen. Die hätten bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal den Großvater Jiddisch sprechen gehört.

Er krempelt den Arm hoch. "Ich habe als Jude die halbe Familie in Auschwitz verloren. Ich war in Auschwitz. Hier habe ich die Nummer eintätowiert. Dort hieß ich nicht Nojovits, Mordechai, sondern A 10408." Unzählige Bücher seien geschrieben und Filme gedreht worden über den Holocaust und das Schicksal der Opfer. Aber sie würden nicht ausreichen. "Man kann über jeden Häftling zwei Filme und zwei Bücher machen, und es reicht nicht aus, um alles zu erzählen." Deutschland sei wie ein Tuch mit hunderten Punkten, die Konzentrationslager markieren, aber nur wenige seien heute noch als solche erkennbar. "Ich war auch in Mühldorf, ein schreckliches Lager. Aber dort wird es mit keinem Wort erwähnt", sagt der 80-jährige Mordechai Nojovits, der heute in Israel lebt. Es gebe nur wenige Orte, wo das Gedenken von den Bürgern ausgehe wie in Leonberg, lobt er die KZ-Gedenkinitiative.

Er habe heute ein schönes Haus, ein Schlafzimmer mit einem guten Bett, sagt Mordechai Nojovits. Aber jeden Morgen wenn er aufstehe, sehe er an der Wand die Fotos seiner ermordeten Geschwister und der Mutter. Und er frage sich jeden Tag warum das alles geschehen musste, angezettelt von Deutschland, das seiner Meinung nach die schönste Kultur in Europa hat, die besten Maschinen und ein großes humanistisches Gedankengut. "Es gibt einen hebräischen Spruch, der sagt, dass es auf jedes Warum ein Darum gibt. Aber ich habe kein ,Darum' gefunden. Warum habe ich meine Mutter, meine kleinen Geschwister verloren? Sie haben niemanden ein Leid angetan, sie waren keine Verbrecher."

Die Frage nach dem Warum stellt sich auch Riccardo Goruppi, der als italienischer Partisan gemeinsam mit seinem Vater in das KZ Leonberg eingeliefert wurde, wo dieser geschwächt durch die bestialischen Haftbedingungen an Typhus starb. Noch gut erinnere er sich daran, dass im Tunnel die Häftlinge 20 Minuten still stehen mussten, wenn die Zivilarbeiter frühstückten. Diese schnitten dann die Brotkrusten ab und warfen sie den Häftlingen zu. Anfangs habe er das als bösartig empfunden, aber nur später sei ihm klar geworden, dass das die einzige Art war, wie die Arbeiter ihnen helfen konnten, ohne von der SS bestraft zu werden, blickt Riccardo Goruppi zurück. Die Häftlinge hätten sehr unter dem Verlust ihrer Identität durch die ihnen zugeteilten Nummern gelitten, erinnert sich Goruppi. Das Erste was er 1944 in Leonberg erhalten habe, sei eine neue KZ-Nummer gewesen. Und so habe es ihn tief berührt, als er auf Einladung der KZ-Gedenkstätteninitiative nach Leonberg gekommen war und als Erstes ein Namensschild angesteckt und damit seinen Namen bekam.

"Mit der Namenswand und dem heiligen Buch der Verstorbenen in der Blosenbergkirche haben alle ihre Namen zurückerhalten, denn auch die Toten sind nur als Nummern gestorben, und das ist für uns ehemalige Deportierte von großer Bedeutung", sagt Riccardo Goruppi, "Wunden können verheilen, aber die Narben bleiben." Trotzdem er viel Leid erfahren hat, habe das bei ihm nicht zu Hass geführt, betont der 78-Jährige.

Eine wahre Odyssee haben sowohl Mordechai Nojovits als auch Riccardo Goruppi nach der Evakuierung des Lagers Leonberg erlebt. Nojovits kam in einem Güterzug nach Bayern, der im allgemeinen Durcheinander kreuz und quer fuhr. Nach einem Fliegerangriff wurden die Häftlinge von deutschen Offizieren als frei erklärt, um wenige Kilometer weiter dann zu hunderten von anderen deutschen Soldaten erschossen zu werden. Am 30. April 1945 wurde er in Seeshaupt am Starnberger See von den Amerikanern befreit: Goruppi, der an Typhus erkrankt war, lag in einem Krankenzug der mitten in Kampfhandlungen geriet. Nur weil er zu schwach war, um den Waggon zu verlassen und er unter Toten zum Liegen kam, sei er selbst mit dem Leben davongekommen, berichtet Goruppi heute.


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