Die Waisen von Senones erinnern an den Terror in Leonberg

von Monica Mather
Angehörige von KZ-Opfern wollen am Volkstrauertag Erinnerungstafel anbringen
Leonberger Kreiszeitung, 9. November 2005

Zwei kleine Tafeln im Friedhof Seestraße weisen darauf hin, dass hier tote Ausländer ruhen. Nur Eingeweihte wissen, dass es KZ-Opfer sind. Am Volkstrauertag soll auf Wunsch von Bürgern aus Senones in Frankreich eine weitere Tafel hinzukommen.

Nach der Volkstrauertag-Gedenkfeier beim Friedensmahnmal kommt auf Wunsch von Bürgern aus Senones in Frankreich eine weitere Tafel hinzu: "Zum Gedenken an unsere Väter. Die Waisen von Senones" lautet der Text. Senones ist in den Vogesen, im "Tal der Tränen" gelegen. Im Spätsommer/Herbst 1944 terrorisierte das Nazi-Regime die Bevölkerung der Vogesen, der Widerstand sollte endgültig gebrochen werden.

Auch Senones wurde heimgesucht. Dort gedenkt die Bevölkerung noch heute voll Trauer und Schrecken des 5. und 6. Oktober 1944. Die stellvertretende Vorsitzende der KZ-Gedenkstätteninitiative, Renate Stäbler, hat sich mit der Geschichte der Deportationen der Männer aus Senones beschäftigt, zu denen damals auch 15- bis 18-Jährige gehörten, die auf Umwegen in das KZ Leonberg kamen. Seinerzeit wurde eine Befestigungslinie auf den Kämmen der Vogesen errichtet, auch "Schutzwall-West" genannt.

Er verlief in etwa entlang der deutsch-französischen Grenze von 1871 bis 1919. Zum Bau herangezogen wurden etwa 60 000 Hitlerjungen und - so Renate Stäbler - die zwangsverpflichteten Bewohner der Orte, durch die der Schutzwall lief. Im Zuge der Rückeroberung Frankreichs durch die Alliierten flüchteten immer mehr Gestapo-Einheiten nach Osten in den elsässisch-lothringischen Raum. Sie erhielten die Aufgabe, die Region von französischen Widerstandskämpfern zu "säubern".

Diese Terroraktion von Mitte August bis Anfang November 1944 lief unter dem Decknamen "Waldfest". Deportiert werden sollten alle Männer zwischen 17 und 35 Jahren, Altersgrenzen, die aber nicht eingehalten wurden, so fand Renate Stäbler in Aufzeichnungen heraus. Auf einer Konferenz in Gerardmer, an der Himmler selbst teilnahm, wurden den SS- und Gestapo-Einheiten folgende Sanktionsmöglichkeiten freigestellt: rechtsfreie Hinrichtungen von Verdächtigen, Deportation größerer Bevölkerungsteile in KZ, Evakuierung ganzer Städte, Plünderung und Niederbrennen von Gehöften.

Die Konferenz von Gerardmer stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Niederschlagung einer Erhebung in Charmes. In dem Städtchen an der Mosel hatte sich eine kleine Widerstandsgruppe erhoben, weil man die Amerikaner unmittelbar vor dem Einmarsch glaubte. Von den Deportierten aus Charmes, die auf Umwegen ins KZ Leonberg kamen, überlebten unter anderen der damals 15-jährige Albert Montal und die 17-jährigen Michel Didier und Michel Fouchecourt.

Das besondere Augenmerk der Sicherheitspolizei-Kommandos (Sipos) galt den Bewohnern des Rabodeau-Tales, heute "Tal der Tränen" genannt.

In diesem alten Standort der Textilindustrie mit vielen Arbeitern und einer starken Widerstandsbewegung, liegt auch die Stadt Senones. Auf Grund einer von einem Sipo-Kommando in einem verlassenen Widerstands-Camp gefundenen Liste mit 46 Namen wurden insgesamt 30 Männer gefangen genommen und ins nahe gelegene KZ Natzweiler/Struthof gebracht, dort zum Teil durch Genickschuss hingerichtet oder an Fleischerhaken aufgehängt.

Vor wenigen Tagen eröffnete Staatspräsident Jacques Chirac direkt neben dem ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler/Struthof eine Gedenkstätte für NS-Widerstandskämpfer, die unter anderem auch diesen Männern gewidmet ist.
Claude Brignon, aus einem Teilort von Senones, damals 18-jährig, beteiligte sich am "Widerstand", indem er das V (Victory-Zeichen) auf exponierte Stellen aufmalte. Claude Brignon hat seine Verhaftung ausführlich geschildert: Er wurde mit gefesselten Händen und einem Revolver im Rücken durch den Wald bis zum Haus seiner Eltern getrieben. Dort wurde er an die Wand gestellt und ein Maschinengewehr auf ihn gerichtet. Es war "nur" eine Scheinhinrichtung zur Erpressung eines Geständnisses - aber Claude Brignon gab nichts preis.

Schließlich wurde er zum Kloster in Senones gebracht. Es war zu einer Fabrik umgenutzt worden und hatte einen großen, von hohen Mauern umschlossenen Hof mit wenigen Ausgängen, die gut zu bewachen waren. Zunächst waren die Arbeiter in der Fabrik eingesperrt worden, dann die Einwohner von Senones im Klosterhof. Als die Frauen freigelassen wurden, mussten sie der Gestapo Fahrräder, Radios, Petroleumlampen und dergleichen abliefern, sie wurden schamlos ausgeplündert. Derweil wurden die Männer strengsten Verhören unterzogen, auch Claude Brignon. Am Morgen darauf wurden er und andere Männer von Senones auf Lastwagen gepfercht und abtransportiert. Eine Stunde später kamen sie im Lager Schirmeck an, wo ihr Leidensweg durch die deutschen Konzentrationslager begann.

In Senones mahnt eine Gedenktafel an die Verschleppung von 354 Männern aus Senones, Vieux-Moulin und Menil. Sie wurden am 6. Oktober 1944 deportiert. 245 von ihnen sind nicht zurückgekommen. Aus Senones und Umgebung kamen 24 Männer nach Leonberg, nur acht überlebten. Den Toten von Senones ist die französisch-sprachige Tafel gewidmet, die auf dem Grab im Friedhof Seestraße niedergelegt werden soll. Der Text lautet: "Aux mémoires de nos pères les orphelins de Senones" - "Zum Andenken an unsere Väter. Die Waisen von Senones".


Gedenken an die Opfer von Senones

Leonberg (mo). Im "Tal der Tränen" erinnern zahlreiche Gedenkstätten an die Ereignisse im Spätherbst 1944. Eine Gedenktafel an der Abtei in Senones mahnt: "In den Mauern dieser Abtei wurden am 5. Oktober 1944 354 Einwohner von Senones, Vieux-Moulin und Menil - herausgerissen aus ihrer Familie - auf Befehl der Gestapo eingepfercht, angeklagt des Widerstands.

Verschiedene erlitten grausame Folter, (sie sind) bewundernswert für ihre stolze Haltung und ihren Mut. Sie wurden alle am 6. Oktober in die deutschen Vernichtungslager deportiert. 245 von ihnen sind nicht zurückgekehrt. Vergesst nicht ihr langes und leidvolles Martyrium. Ehrt diese bescheidenen Helden. Vereinigen wir uns in dem gemeinsamen ehrenvollen Gedenken an sie (wörtlich übersetzt: in dem Kult der andächtigen Erinnerung an sie)."


Auszüge aus dem Augenzeugenbericht der Claire Louré

„Um 10 Uhr genau auf der Schuluhr, stellten die Deutschen einen Konvoi der Frauen aus diesem Teil von Senones zusammen. Unser Konvoi ging dem des ersten Bataillons voraus, wir sind dann als Erste in den Hof der Fabrik hineingegangen, wo ich mit Bestürzung meinen Vater unter den anderen gesehen habe. Alle Ausgänge dieses großen viereckigen Hofes mit hohen Mauern waren von Gewehren, die auf uns gerichtet waren, bewacht. Wir standen alle da in Erwartung einer Katastrophe.

Genau am Mittag war aus dem Lautsprecher eine Stimme zu hören: .Anweisung an alle schwangeren Frauen, aus der Reihe zu treten.' Wir waren sieben schwangere Frauen, die SS ließ uns aus der Fabrik gehen und an der Mauer aufstellen... Genau um 2 Uhr hat sich ein Soldat von den anderen entfernt, um uns zu sagen: ,Ihr fortgehen!' Ich bin unentschlossen vor der Abtei stehen geblieben, die Meinigen waren eingeschlossen - was sollte ich tun.

An diesem 5. Oktober um 5 Uhr abends waren alle Frauen freigelassen. Man erhoffte auch die Rückkehr der Männer an diesem Abend, aber es war eine Schreckensnacht, die folgte. […]

Die ganze Nacht haben sie uns aufgefordert, Nähmaschinen, Radioapparate, Fahrräder, Petroleumlampen, Stiefel und zwei Paar Socken pro Einwohner zu bringen. Es wurde ein Trauerzug. Während das Dorf brannte, waren wir Repressalien ausgesetzt, wenn wir nichts brachten. […]

Als ich am Morgen des 6. Oktober 1944 hinuntergegangen war, wollte ich zu Alice Hertzog, ich dachte, dass sie vielleicht etwas wissen könnte. ,Ich habe die ganze Nacht Männer schreien hören', hat sie mir gesagt. [...]

Gegen 16 Uhr am 6. Oktober kehrten wir in die Stadt zurück, trotz der möglichen Gefahr. Wir sind das Sträßchen hinunter gegangen, die kleine Straße, die in das Stadtzentrum einmündet. Als wir dort ankamen, sahen wir einen mit Männern beladenen Lastwagen aus der Fabrik kommen. Wir sind gerannt, um ihn zu treffen, und da haben wir meinen Vater mit anderen Männern auf dem Lastwagen gesehen, alle standen eng aneinander gepresst, Angel war an meinen Vater gedrückt.

Das war das letzte Bild! Yvette und ich liefen hinter dem Lastwagen her und schrieen laut .Papa, Papa! Angel!' Dieses Foto ist für immer in mein Herz eingebrannt, es war die letzte Fahrt der Männer. Wir waren die einzigen Frauen aus Senones, die sie die Fabrik hatten verlassen sehen. Ich könnte tausend Jahre leben, und das Bild würde nicht aus meinem Gedächtnis gelöscht werden."


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