Eine Initiative gegen die Mauer des Schweigens

von Sybille Schurr
Gedenken am alten Tunnel
Leonberger Kreiszeitung, 26. Januar 2009

Leonberg. Alljährlich Ende Januar wird am alten Engelbergtunnel der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit.

"Papi, sind das Sklaven?", fragt ein Elfjähriger seinen Vater. Beide stehen in der Dokumentationsstätte am alten Engelbergtunnel vor einer Fotografie, die an den Todesmarsch der 2700 Häftlinge erinnert, die im April 1945 nach Bayern geschickt wurden. Damals sollte die Produktion für den ME-262-Düsenjäger im Engelbergtunnel wegen der anrückenden französischen Armee verlegt werden.

"Mein Gott, wie oft bin ich durch den Engelbergtunnel gefahren und habe mir nie etwas dabei gedacht", sagt ein 78-Jähriger aus Stuttgart. Er hatte nicht geplant, die Dokumentationsstätte im alten Engelbergtunnel zu besuchen. Der sonnige Tag lockte ihn und seine Frau zu einem Ausflug. "Durch Zufall haben wir das Hinweisschild zur KZ-Gedenkstätte gesehen."

"Wer denkt schon daran, dass hier, vor unserer Haustür, vor den Augen der Menschen in Leonberg, Ähnliches geschehen ist?" Erschüttert verfolgt ein Ehepaar im KZ-Gedenkraum im Samariterstift den Dokumentarfilm, in dem Überlebende ihr Schicksal als Häftlinge des Lagers schildern. Erst vor kurzem sind die beiden in die Seestraße gezogen. "Lange haben wir von diesem Kapitel in der Leonberger Geschichte nichts gewusst."

Einen ganz anderen Bezug dazu hat Irmtraud Klein. Sie gehört mit zum Vorstand der Leonberger KZ-Gedenkstätteninitiative. Ihre Großmutter lebte direkt angrenzend an das Lager, an das im Gedenkraum im Samariterstift eine angerostete Emailletafel erinnert: "Betreten und fotografieren verboten; Anlieger müssen ihren Passagierschein vorweisen; bei Zuwiderhandlungen wird geschossen."

"Was ist dort passiert?" Eine bohrende Frage, die Irmtraud Klein, Jahrgang 1953, schon als Kind beschäftigte. Die Großmutter erzählte das eine und andere. Doch eigentlich sei sie immer vor einer Mauer des Schweigens gestanden, erinnert sie sich. Ein Schweigen, das sich in Jahrzehnten zu einer fast undurchdringlichen Wand verfestigt hat.

"Es ist bewundernswert, was die KZ-Initiative am Ende doch noch bewegt hat", sagt Reinhard Händel aus Renningen. Der SPD-Gemeinderat hat sich schon lange vorgenommen, die Leonberger Gedenkstätten einmal zu besuchen. "Ich bin froh, dass ich es jetzt endlich geschafft habe." Nie davon gehört? Dieses Argument will er nicht gelten lassen. "Das darf nicht geschehen, denn das Erinnern ist die Grundlage zum Nichtvergessen."

Immer wieder erstaunt sind Eberhard Röhm, Vorsitzender der Gedenkstätteninitiative, und seine Stellvertreterin Renate Stäbler, über das öffentliche Interesse. "Es kommen immer wieder Menschen, die sich informieren wollen, und es werden eigentlich immer mehr als weniger", stellt Renate Stäbler fest. Die Mauer des Schweigens, die jahrzehntelang vor diesem Kapitel deutscher Geschichte stand, ist auch durch engagiertes Vorgehen solcher lokalen Initiativen wie der in Leonberg niedergerissen worden.

Heute beschäftigt sich auch der 19-jährige Karim mit dem Schicksal der KZ-Häftlinge in Leonberg. Der junge Türke macht es sogar zum Thema seiner Abiturarbeit. Dabei hatte er nur durch einen Zufall vor Jahren den Vortrag eines Zeitzeugen gehört. Seitdem lässt ihn dieses Thema nicht mehr los.

Besonders beeindruckt hat Irmtraud Klein eine der ersten Begegnungen mit Überlebenden. "Alle erhielten ein Namensschild. Eine ganz normale Sache. Doch für die ehemaligen Häftlinge, die nur eine Nummer waren, war das das eindrücklichste Erlebnis."


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