Erklären kann man es dennoch nicht

von Friederike Diestel
Leonberger Kreiszeitung, 1. Februar 2005

LEONBERG - Nur vier Kilometer vom Vernichtungslager Auschwitz entfernt stationiert, blieb dem damals 16-jährigen Flakhelfer Konrad Plieninger die dortige Realität weitestgehend verborgen. Propaganda und Falschinformationen ließen ihn und die anderen Jugendlichen im Dunkeln über das Grauen, das sich dort abspielte.

Nun, 60 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers durch die sowjetischen Truppen, sind Plieninger die "zwiespältigen Erinnerungen" daran geblieben. Am Sonntag sprach der Sohn des vormaligen Leonberger Dekans im Altarraum der Stadtkirche über dieses "Schlüsselereignis der Geschichte". Eigentlich war sein Vortrag in einem Raum im Stadtmuseum geplant gewesen, doch dort war für die vielen interessierten Zuhörer nicht genug Platz vorhanden.

Spontan wechselte die Gruppe von ungefähr 70 Personen in die Kirche, wo Stühle herangeschafft wurden und Plieninger in der friedvollen Atmosphäre des Gotteshauses von den menschenunwürdigen Zuständen und der systematischen Tötung von weit mehr als einer Million Juden erzählte. Er war nie selbst am Ort des Geschehens gewesen, doch auch vier Kilometer entfernt erreichte sie der süßliche Geruch von Leichen und der schwarze Rauch, der ständig über dem Lager hing.

Im Altarraum waren am Sonntag etliche ehemalige Kameraden Plieningers, die in jener Zeit dieselben Erfahrungen machten wie er und zu seinem Vortrag nach Leonberg gekommen waren. Vielen Zuhörern war die Erschütterung ins Gesicht geschrieben, manche schüttelten nur ungläubig den Kopf. Plieninger benutzte viele Begriffe, mit denen er die Bilder, die er vor 60 Jahren vor sich hatte, versuchte in Worte umzusetzen: Auschwitz als ein "Kulturschock", als die "Chiffre des Bösen" oder als "Zivilisationsbruch".

Es gibt viele Menschen, die an diesen "unglaublichen Vorgängen" beteiligt waren, Fotos, Dokumente und Zeitzeugen. Trotzdem: "Es ist zwar alles unwiderlegbar bezeugt, aber erklären kann man es dennoch nicht", sagte am Sonntag der pensionierte Professor.

Als Jugendlicher im Alter von 15 Jahren wurde Plieninger für den Fronteinsatz vom Unterricht freigestellt. Fast 1000 Helfer an den Flugabwehrkanonen bedienten wie er in einem Dorf nahe Auschwitz ungefähr 180 Geschütze. Die Gegend war für das NS-Regime von höchster Bedeutung, denn das Lager Auschwitz stellte zugleich ein "rüstungswirtschaftliches Entscheidungszentrum" dar. Und obwohl ihm Oberschlesien als eine zutiefst fremde Welt erschien, war der Junge zunächst stolz auf seine Uniform und seine Aufgabe - nämlich den "Feinden des Deutschen Reiches" Widerstand zu leisten.

Die Menschen dort unterhielten sich in einer ihm unverständlichen Sprache, und für ihn und seine Kameraden war es normal, die Bevölkerung als "Polacken" zu bezeichnen, ein verächtlicher Begriff aus dem Wortschatz der NS-Propaganda.

Prägend bis ins hohe Alter wirkten sich die Ereignisse auf den Jungen aus. Nie vergessen werde er den Tag, als Häftlinge aus dem Lager helfen mussten, Gruben auszuheben und ein am Ende seiner Kräfte angelangter Mann zur Strafe für seine "Faulheit" lebendig unter Erde begraben wurde. Zwar durfte dieser sich nach einiger Zeit wieder herauswühlen, doch verstanden hat Plieninger bis heute nicht, wie so etwas mit der von den Nazis propagierten "deutschen Ehre" vereinbar gewesen sein soll.


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