Es war eines der schlimmsten KZ

von Alexander Ikrat
Mordechai Noyowitz hat Lager Leonberg überlebt - und zuvor Auschwitz
Stuttgarter Nachrichten, 19. Februar 2005

Mordechai Noyowitz wird die Dämonen der Vergangenheit auch 60 Jahre danach nicht los. "Ich habe ein Schlafzimmer, ein gutes Bett, ich schlafe gut", sagt der 79-Jährige, "aber jeden Morgen wache ich auf und habe die Bilder vor mir: meine Mutter, wie sie sich mit ihrem ganzen Körper auf meine Schwester und meine Brüder legt, um sie vor dem Ersticken zu retten." Die Nazis haben alle vier in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Mordechai war nicht dabei. Er sollte sich für den "Endsieg" zu Tode arbeiten.

Mordechai Noyowitz stellt sich der Vergangenheit auch 60 Jahre danach. Mehrfach ist er, der seit 1947 in Israel lebt, zurückgekehrt. Zweimal war er in Leonberg, wo er von März bis April 1945 im KZ-Außenlager inhaftiert war. Und er will auch zur Gedenkveranstaltung am 8. Mai kommen. Was er am Ort seiner Pein sucht? Er ringt um Worte und sagt dann: "Ich zeige, dass ich lebe."

Noyowitz ist eigentlich sehr gesprächig und will es auch jetzt sein, da er sich an die dunklen Tage erinnern soll. Doch dem ungarischen Juden fehlen die Worte für manches, was sich zwischen seiner Deportation aus Siebenbürgen und der Befreiung in Seeshaupt am Starnberger See zugetragen hat. Die schlimmsten Erlebnisse in Auschwitz, Groß-Rosen und Flossenbürg blendet er aus. Wenn sich andere daran erinnern, wie Menschen gefoltert und getötet wurden, berichtet Noyowitz von den Schlägen, die er dafür bekommen hat, um Brot zu bitten.

Als er 2001 in Leonberg war, um bei der Eröffnung des "Weges der Erinnerung" dabei zu sein, freute er sich, weil er das Gelände "so grün, so schön, so romantisch" erlebte, und sagte: "Wenn damals solches Gras da gewesen wäre, hätten wir es gefressen." Da hatte er mehrere Todesmärsche und -fahrten hinter sich, war nach der Auflösung von Auschwitz am 18. Januar 1945 in nur einer Nacht 50 Kilometer gegangen. Wer das nicht schaffte, war unterwegs erschossen worden. Später stopften die Nazis tausende in Züge. Noyowitz: "Als wir aus den Waggons herauskamen, war etwa ein Drittel der Menschen tot." Sie hatten tagelang kein Essen und Trinken bekommen.

Das war auch so, als Noyowitz mit hunderten anderer Juden in Leonberg ankam. Zwar war die Produktion von Tragflügeln für die ME 262 bereits eingestellt, um die Versorgung war es aber schlechter denn je bestellt. "Leonberg war eines der schlimmsten KZ, die ich erlebt habe", urteilt Noyowitz. Zu essen gab es kaum etwas, der Boden vor der Baracke war braun, der 19-Jährige wog 40 Kilogramm bei 1,74 Meter Größe. Typhus grassierte. Der gebürtige Ungar erinnert sich: "Ein Bett war einen Meter breit und zwei lang, vier Häftlinge haben darauf geschlafen. Eines Nachts wache ich auf, und der Mann neben mir ist tot. Ich habe nichts gefühlt." Zu viel Leid hatte er erlebt.

Die Odyssee ging weiter. Wohl am 15. April verließ Noyowitz als einer der Letzten das Lager. Sie marschierten durch den Engelbergtunnel und Stuttgart bis zum Bahnhof Esslingen. Einige waren zu schwach, ihren Mantel zu tragen und warfen ihn weg, andere wurden erschossen. Mordechai Noyowitz kam nach Mühldorf, wurde später in einem Waggon planlos herumgefahren. Er erwartete, lebendig begraben oder vergast zu werden, geriet in den Kugelhagel der Alliierten. Als er vor einem US-Panzer stand, verstand er nichts: "Ich war wie ein Tier.

Ich dachte nur noch an Essen, Urinieren, Schlafen, Gehen." Der 19-Jährige war frei. Wie sein Vater, eine Schwester. Sein verbliebener Bruder kam in russische Gefangenschaft. Noyowitz kehrte nach Ungarn zurück, in Israel gründete der Gewerkschaftssekretär später eine Familie. Er hat zwei Töchter und fünf Enkelkinder. Seine Hoffnung: "Ich will Frieden für alle." Und den Sieg über die Dämonen der Vergangenheit.


zurück