Regelmäßig führt Ingeborg Böhme Schulklassen den Weg der Erinnerung entlang, der an das Schicksal der KZ-Häftlinge im Leonberger Außenlager erinnert. Wie blicken Schülerinnen und Schüler auf das dunkelste Kapitel der Stadtgeschichte?
LkZ-Serie über das KZ Leonberg, Teil 7: Besuch einer Schulklasse

An einem nebligen Novembermorgen kommt eine Schulklasse der Robert-Franke-Schule mit dem Zug von Ludwigsburg nach Leonberg. Die Zehntklässler sind mit ihrer Geschichtslehrerin Carina Langauer hier, um mehr über das Schicksal und Leid der Leonberger KZ-Häftlinge zu erfahren – die von 1944 bis 1945 im alten Engelbergtunnel arbeiten mussten. Was wissen die Schülerinnen und Schüler über die NS-Zeit und wie blicken sie heute darauf?
„Die KZ-Häftlinge kamen damals, vor 81 Jahren, wie ihr mit dem Zug am Bahnhof in Leonberg an, nur wurden sie in alten Viehwaggons hertransportiert, aus Natzweiler im Elsass“, sagt Ingeborg Böhme. Böhme engagiert sich bei der Leonberger KZ-Gedenkstätteninitiative und führt regelmäßig Schulklassen auf den Weg der Erinnerung – vom Bahnhof über den Friedhof die Seestraße entlang, am Samariterstift und der Blosenbergkirche vorbei und zum alten Leonberger Engelbergtunnel, wo sich bis vor 80 Jahren das Arbeitslager befand.
Mit schnellen Schritten geht Böhme voran aufs Friedhofsgelände. Hier beginnt Böhme ihre Führung, weil hier ehemalige KZ-Häftlinge begraben liegen. Sie bleibt wenige Hundert Meter weiter vor dem Denkmal der Gefallenen aus dem zweiten Weltkrieg stehen. Sie freue sich riesig, dass sich die Klasse selbst entschieden habe, mehr über das Leonberger Außenlager zu erfahren. Zu welchem Zeitpunkt im Krieg wurde das Lager errichtet?, will Böhme von der Gruppe wissen. „Kurz vor Kriegsende“, antwortet ein Schüler.
Und auch die damaligen deutschen Bündnispartner können die Schüler nennen – Italien, Japan, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Slowakei. Als Böhme fragt, wer den Zweiten Weltkrieg begonnen hat, gehen alle Hände in die Luft. Wen die Deutschen dabei zuerst überfallen haben, fragt Böhme. Ein Schüler ruft sogleich: „Polen!“ Dann geht Böhme weiter auf die politische Ausgangslage 1944 ein: Damals rückten im Osten die Russen immer näher, im Süden eröffneten die Alliierten mit der Landung in der Normandie eine zweite Front.
Lange wurde nicht benannt, was in Leonberg geschah
Böhme führt die Gruppe zum anderen Ende des Friedhofs, in den östlichen Teil. Dort hat die Stadtverwaltung kupferfarbene Stelen als Mahnmal aufgestellt, daneben stehen Grabsteine. Inzwischen sind dort ein paar der Häftlinge begraben, die ursprünglich im Massengrab auf dem Blossenberg verscharrt wurden. Ob man das auf dem Mahnmal erkennen könne, dass dort KZ-Häftlinge begraben liegen? „Nein“, sagen mehrere Schülerinnen und Schüler vorsichtig. „Opfer der Gewalt und Herrschaft in dunkler Zeit“, liest einer vor, „von 1939 bis 1945.“
Die Stationen des "Weges der Erinnerung" in Leonberg
Es geht weiter vom Alten Friedhof aus die Seestraße entlang Richtung Tunnel. „Hier mussten die Häftlinge nach ihrer Ankunft barfuß über den gefrorenen Boden vom Bahnhof hochlaufen, als sie ankamen“, sagt Böhme und bleibt mitten auf der Seestraße stehen. Die Häftlinge waren damals in zwei Lagern in der Seestraße untergebracht, am Fuße des Tunnels und dort, wo sich heute das Samariterstift befindet.
Schülerin: „Da fühlt man sich nicht mehr wie ein Mensch.“
Immer wieder bittet Böhme auf dem Weg Schülerinnen und Schüler die Biografien der KZ-Häftlinge vorzulesen, die sie zuvor verteilt hat. Der jüngste von ihnen ist Samuel Pisar, der als Jude mit seiner Familie in einem Ghetto im Nordosten Polens aufwächst und mit 15 Jahren in Leonberg ankommt. Als die Familie verhaftet wird, rät ihm seine Mutter, eine lange Hose anzuziehen, damit er nicht für ein Kind gehalten werde. Und tatsächlich: Während sie und Pisars jüngere Schwester im KZ getötet werden, wird der Junge den Arbeitern zugeteilt.
Die Schülerinnen und Schüler können kaum glauben, wie jung die Häftlinge damals waren. Und werden noch erschrockener, als Böhme sie bittet, die Biografien umzudrehen, auf denen die KZ-Nummern zu sehen sind – und die Nummern aufruft und nach vorne treten lässt. „Da fühlt man sich nicht mehr wie ein Mensch. Mehr wie ein Nichts“, sagt eine Schülerin. „Wenn jemand seine Nummer vergessen hat oder überhört hat, ging der Appell manchmal stundenlang“, schildert Böhme.
Die Schüler beschäftigt der Rechtsruck in Europa
Was geht den Schülerinnen und Schülern durch den Kopf, auf dem Weg der Erinnerung? „In der NS-Zeit wurden viele getötet, die wie ich aus Mazedonien kommen“, sagt der 18-Jährige Kristian Danilov. Er kennt sich gut aus, ist immer wieder einer der Ersten, die sich melden, wenn Böhme die Schülerinnen und Schüler miteinbezieht. Er verfolgt auch das Erstarken von Parteien wie der AfD, dem Rassemblement National in Frankreich, der Lega in Italien. „Wenn ich das sehe, glaube ich, dass das wieder passieren kann“, sagt er. Und auch Gavin Mahamadachchi und Salem Hammoud Assani sagen, dass der Rechtsruck in Europa Thema im Freundeskreis ist. „So stellen wir es uns auch vor, wenn die AfD an die Macht kommt“, sagt einer. Und der andere: „Aber wir hoffen natürlich, dass das nicht passiert.“
Ein anderer, Leith Hamide, kann nicht verstehen, warum die Nationalsozialisten es auf die Juden abgesehen hatten. „Das ist nicht nur bei den Nazis so gewesen“, beginnt Böhme. „Die Juden waren schon immer die Sündenböcke, schon im Mittelalter hieß es, als die Pest umging, sie hätten die Brunnen verseucht.“
Schließlich kommt die Schulklasse am alten Engelbergtunnel an. In Wechselschichten mussten die Häftlinge hier zwölf Stunden lang die Tragflächen von Düsenjets produzieren, sieben Tage die Woche. „Es war so kalt im Tunnel, dass ich nicht einmal mehr Hunger spürte“, liest Schüler Kristian Danilov aus der Biografie von Jaroslav Pek, einem Tschechen. Die Arbeit sei nicht nur schwer gewesen, sondern auch laut, wenn die Arbeiter mit Hämmern die Nieten in die Tragflächen hämmerten. „Jeder Schlag war nicht nur in der Hand, sondern auch im Kopf zu spüren.“
Immer wieder werde Böhme gefragt, warum sie in der Gedenkstätte auch 80 Jahre nach dem Ende des KZs noch Führungen anbieten würden. „Wir, die hier heute sind, sind alle später geboren und nicht verantwortlich für das, was passiert ist“, sagt Böhme. „Aber wir sind alle verantwortlich, dass es nie mehr passiert“, sagt sie den Schoah-Überlebenden Max Mannheimer zitierend. Und fragt die Schülerinnen und Schüler, was jede und jeder Einzelne tun könne, damit das gelänge. „Keine rechten Parteien wählen“, sagt einer. Geschichtslehrerin Langerer fügt hinzu: „Im Gespräch bleiben, um zu verstehen, warum jemand extreme Meinungen vertritt.“ „Es braucht guten Politikunterricht“, findet ein anderer. Eine weitere Schülerin fordert, dass man weiter über die NS-Gräuel sprechen und sich zurückerinnern solle.