Mantelfutter als Verbandsmaterial

von Florian Mader
Helene Kessler aus Warmbronn überlebte drei KZs. Bei einer Lesung schildert sie ihre bewegende Geschichte.
Leonberger Kreiszeitung, 3. Februar 2014

Wenn sich Helene Kessler aus Warmbronn an die schlimmste Zeit ihres Lebens erinnert, sind diese Erinnerungen furchtbarer, als sich die meisten je vorstellen können. Zum Beispiel eine Szene auf der Flucht vor den Russen. „Wer schlapp machte, durfte auf die Pritsche eines Wagens und wurde dann abends erschossen."

Helene Kessler war damals im Konzentrationslager „Schlesiersee" (im heutigen Polen) interniert. Im Winter 1944/45 räumte die SS alle östlichen Konzentrationslager - und die arbeitsfähigen Gefangenen mussten tagelang in Richtung Westen fliehen. „Todesmärsche" nannten dies Historiker später. Schwerste Erfrierungen und offene Wunden am Fuß plagten die heute 92 Jahre alte Helene Kessler damals.

„Das Futter des Mantels und Margarinepapier diente mir als Verbandsmaterial", erzählt sie den etwa zwanzig Zuhörern im Raum der KZ-Gedenkstätteninitiative im Samariterstift. Einmal lädt diese zu einer Lesung. Und da sind es solche Details, welche die Zuhörer beeindrucken. „Diese menschlichen Schicksale lassen die große Politik in einem ganz anderen Licht erscheinen", sagt Linde Beer. Sie ist an diesem Nachmittag eine der Personen, die aus der Autobiografie von Helene Kessler vorlesen. „Ich kann das allerdings nur mit viel innerem Abstand lesen", sagt sie. „Sonst wird man verrückt." Etwa, wenn die Jüdin beschreibt, wie sie im KZ Auschwitz behandelt wurde: „Uns wurden alle Haare abgeschoren, auch unter den Achseln.

Die Verwandlung war perfekt. Wir konnten uns selbst nicht wiedererkennen." Helene Kessler überlebte die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Schlesiersee. Während des Todesmarschs gelang ihr die Flucht. 1973 zog sie mit ihrem Mann nach Warmbronn. Jahrzehntelang behielt sie ihre Geschichte für sich. Erst mit Hilfe der KZ-Gedenkstätteninitiative begann Helene Kessler vor zwei Jahren, ihre Geschichte aufzuarbeiten. „Mit meinem Mann und meinen Kindern konnte ich nie darüber reden", sagt sie.

Eberhard Röhm, der stellvertretende Vorsitzende der Gedenkstätteninitiative, hat Kesslers Erlebnisse in einem kleinen Büchlein festgehalten. „Geschichte ist zu abstrakt, wenn sie nicht an solchen Einzelschicksalen erzählt wird", sagt er.

Um die Geschichte des Dritten Reiches von allen Seiten zu beleuchten, haben die Mitglieder der Gedenkstätteninitiative in ihrem Raum im Samariterstift eine kleine Bibliothek zusammengetragen. Etwa eintausend Bände sind inzwischen zusammengekommen. „Wir machen solche Lesungen und Begegnungsnachmittage wie heute auch, damit unsere Bibliothek bekannt wird", sagt Linde Beer.

Doch nicht die Bücher, sondern die Zeitzeugin selbst ist es, die die Besucher beeindruckt. „Es ist unglaublich, wie natürlich und normal sie reagiert", sagt Katinka Müller. Und auch Linde Beer stimmt zu. „Ihre Schilderungen gehen einem zu Herzen", sagt sie.


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