Mein 9. November 1938

Klaus Beer, Richter a.D. und langjähriges Vorstandsmitglieder der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg, geboren 1932 in Hamburg, erinnert an den 9. November 1938, als Teile seiner Verwandtschaft in Norddeutschland Opfer des Progroms gegen die jüdische Bevölkerung wurde.

Am 9. November vor 80 Jahren war ich in der großen Hansestadt an der Elbe noch zu klein, um die Schrecknisse des Tages in der Stadt und im Reich zu erfahren und zu begreifen. Es war damals meiner mir liebvertrauten Großmutter Elise, geborene Cohen, amtlich „mosaisch“ genannt, in jener schlimmen Nacht ja auch nichts zugestoßen. Auch meine Eltern kamen glimpflich davon.

Mit voller Wucht traf es Omas Verwandtschaft in ihrem Heimatstädtchen Osterholz-Scharmbeck weit hinten im Lande, nämlich ihre Vettern und Kusinen mit den Kindern dort und anderswo. Ich aber erfuhr alles erst später. In Großmutters Geburtsort drangen Männer in hellbraunen Uniformen in die Synagoge ein, häuften ihr Inneres auf und zündeten es an. Dann stürmten sie die Wohnungen der Juden, verprügelten die Männer, zerschlugen, was sie zu zerschlagen reizte. Großmutters Vetters Siegmund verletzten sie zu nachtschlafender Zeit so schlimm, dass er liegenblieb und sich nicht mehr aufrichten konnte. Sie beschädigten auch den Textilladen von Omas Vetter Alfred und das kleine Lädchen seiner Tochter Hanni schwer. Ähnliches stieß allen anderen Juden des Ortes zu. Am nächsten Morgen sperrte man die Überfallenen auf Tage in Gerichtsgefängnisse. Großmutters Vetter Siegmund  starb nach einiger Zeit mangels ärztlicher Behandlung an den im Pogrom erlittenen Verletzungen. Man vergrub ihn auf dem Judenfriedhof, wo alle Grabsteine umgeworfen waren.

In meiner zweiten Heimatstadt, Ulm an der Donau, kürzte ich als Laufbursche schon vor der Bombardierung der Stadt meine Wege über eine eingeebnete Baulücke ab. Später hörte ich: da stand einmal eine Synagoge. Noch später bauten sie darauf eine große Sparkasse. Endlich einmal brachte man dann daran wenigstens eine Erinnerungstafel an. Ich schaute dabei zu. Die neue Synagoge auf dem großen gegenüberliegenden Platz ähnelt äußerlich einem Bunker, nicht dem zerstörten Prachtbau.

Heute lebe ich in meiner dritten Teil-Heimat Leonberg an einem sehr kleinen Flüsschen. Ich selber bin nun alt geworden wie auch die Republik, in der ich lebe.


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