Noch einmal ist das Grausame so nah

von Nathalie Mainka
Gedenktafel in Rutesheimer Straße erinnert an Gestapo-Zwangsarbeiter
Leonberger Kreiszeitung, 11. Juli 2007

Leonberg. Seit gestern hält am Gebäude der Rutesheimer Straße 50/3 eine Gedenktafel die Erinnerung an die Gestapo-Zwangsarbeiter wach, die hier in Leonberg eingesperrt waren. Zur Enthüllung kam der holländische Zeitzeuge Piet Schultz mit seiner Frau angereist.

Ergreifend waren die Worte, die der 84-Jährige gestern vor der Gedenktafel sprach. Zwangsarbeit in Nazi-Deutschland sei eine Erfahrung gewesen, die auf das Leben vieler der Beteiligten einen großen und lange währenden Einfluss gehabt habe. "Sie werden darum sicher verstehen, dass ich heute hier mit gemischten Gefühlen anwesend bin." Auf Anregung der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg hat der Landkreis Böblingen eine Erinnerungstafel vom Eltinger Steinmetz Andreas Geißelhardt anfertigen lassen. "Diese soll zum Nachdenken über unsere Geschichte anregen", sagte Landrat Maier, "denn wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart." Eine Versöhnung ohne Erinnerung gebe es nicht. "Wir, die politische Verantwortung tragen, haben zwar keine Schuld dafür, was in der Vergangenheit passiert ist, doch sind wir verantwortlich für das, was aus der Geschichte wird", so Maier.

Piet Schultz sah es als seine Pflicht an, "in diesem Augenblick allen, die am Anbringen dieser Tafel mitgewirkt haben oder dazu beigetragen haben, herzlich zu danken". Mit diesen wenigen Worten wolle er Gefühle großer Dankbarkeit und Anerkennung aussprechen für die pietätvolle Art und Weise, wie der Zeitraum der Vergangenheit jetzt für die Gegenwart und Zukunft Gestalt angenommen habe. Der Holländer würdigte vor allem die Arbeit der Leonberger KZ-Gedenkstätteninitiative, dessen Vorsitzender Eberhard Röhm ist. Ein Höhepunkt der Gedenkfeiern sei am 8. Mai 2005 die stilvolle Enthüllung der Namensliste vor dem alten Engelbergtunnel gewesen. Für Röhm hat der Ort der neuen Gedenktafel in der Rutesheimer Straße fast schon Symbolcharakter: Während der kleinen Feier gestern eilten viele Schüler gedankenlos an der Gruppe vorbei. "Ich habe mich schon gefragt, ob das der richtige Platz ist", sagte Röhm, "doch genau gegen diese Flüchtigkeit wollen wir etwas tun."

Eine Gruppe von etwa 150 niederländischen Zwangsarbeitern, die aus einem niederländischen Konzentrationslager kamen, waren in der "Kaserne", wie das Gebäude früher genannt wurde, auf primitive Weise untergebracht. Auch Zwangsarbeiter aus dem Osten, meist Frauen und Kinder, wurden hierher verschleppt. "Die Konfrontation mit diesem Gebäude berührt mich tief", sagte Piet Schultz. Ein Dreivierteljahr, von Juli 1944 bis April 1945, war Piet Schultz in Leonberg gefangen. "Auch wenn es jetzt genau 63 Jahre und zehn Tage her ist, dass wir hier den Status polizeilicher Häftlinge hatten, werden doch wieder viele schlummernde Erinnerungen an diese zehn Monate Zwangsarbeit lebendig. Sie werden automatisch in dieser Umgebung aktiviert, die uns allen nur Hunger, Elend und Krankheit brachte", erklärte der Zeitzeuge.

Die Gestapo-Häftlinge mussten monatelang unter härtesten Bedingungen arbeiten, den Engelbergtunnel zu einer Rüstungsfabrik umbauen sowie eine drei Kilometer lange Wasserleitung vom Glemstal bis zum Engelberg errichten. Eines Tages brach dann der Typhus aus. Das Gebäude in der heutigen Rutesheimer Straße, das ursprünglich als Luftwaffenkaserne für die Luftabwehr geplant war, wurde unter Quarantäne gestellt. Niemand durfte mehr die Räume verlassen. 29 Männer hatten den Befreiungstag am 21. April 1945 in Gerlingen nicht mehr erlebt. Piet Schultz hat überlebt. "Seit diesem Tag bin ich Zwangsarbeiter in Ruhe. Und das bin ich bis heute bewusst geblieben. Dafür waren die Ereignisse in diesem polizeilichen Straflager zu erschütternd und nachhaltig", sagte der ehemalige Polizeioffizier, der seit 25 Jahren in Rente ist. Wie er es geschafft hat, trotz dieser Erinnerungen an die erlittenen Erniedrigungen und Entbehrungen nach Leonberg zurückzukehren? "Diese Erinnerung wurde immer schwächer und ist schließlich zur Ruhe gekommen. Die Zeit hat dabei wie ein Filter gewirkt." So habe er "ohne Stress oder Trauma" der Einladung von Landrat Bernhard Maier folgen können, um mit ihm die Gedenktafel zu enthüllen.

Das Gebäude ist heute im Besitz des Landkreises. Hier leben junge Menschen, die eine Krankenpflege-Ausbildung machen. Zudem befindet sich dort eine Außenstelle des Landratsamtes. Einen kleinen Beitrag gegen das Vergessen hat Lehrer Wolfram Übele beigesteuert. Seine zwölfte Klasse des Technischen Gymnasiums beschäftigte sich im Unterricht mit dem Dritten Reich und lud den Zeitzeugen Piet Schultz gestern in den Unterricht ein. Sichtlich berührt waren die vier Schüler, die bei der Feier Briefe ehemaliger Zwangsarbeiter vorlasen.


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