Ohne das Vergessen könnte er nicht jeden Tag leben

von Günter Scheinpflug
Der ehemalige KZ-Häftling und Tel Aviver Bürger Mordechai Nojovits und seine beiden Enkelsöhne sind zu Gast in Leonberg
Stuttgarter Zeitung, 12. Mai 2005

LEONBERG. Auf der Wand aus Stahlplatten stehen 2892 Namen - der von Mordechai Nojovits ist auch dabei. Der ehemalige Häftling des Konzentrationslagers Leonberg ist einer jener Überlebenden, die zur Einweihung des Mahnmals am vergangenen Sonntag gekommen sind.

Der Herr mit dem fast kahlen Kopf lächelt freundlich, obwohl es eigentlich nicht viel zu lächeln gibt. Der Anlass ist traurig genug: hunderte von Gästen, hohe Vertreter aus Politik, Verwaltung und aus den Reihen der Kirche, zahlreiche Überlebende des Holocaust gedachten am Sonntag zum 60. Jahrestag des Kriegsendes der mehr als 3000 Häftlinge des Konzentrationslagers Leonberg. Zur Feierstunde lud die KZ-Gedenkstätteninitiative ein, und danach löste sich die Festgemeinde wieder auf. Nur einige wenige Zeitzeugen blieben - wie Mordechai Nojovits, der etwas Zeit benötigt, um die Eindrücke zu bewältigen. Er ist mit seinen Enkelsöhnen angereist und möchte etwas von dem Land seiner einstigen Unterdrücker sehen. Wie es wirklich in seinem tiefsten Inneren aussieht, weiß nur er selbst. Und er lächelt.

Die Enkelsöhne Guy und Dotan Moshanov verstehen kein Wort, wenn ihr Großvater in seinem jiddisch-deutschen Dialekt sinniert: "Warum ist das geschehen? Warum gibt es darauf keine Antwort?" Der heute in Tel Aviv lebende und aus Borsa in Nordsiebenbürgen stammende fast 80 Jahre alte Mann war am 25. Mai 1944 mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert worden. In Birkenau wurde er von seinen Liebsten getrennt. Die Brüder Joseph und Moshe wie auch die Schwester Lea und die Mutter Mirjam wurden sofort umgebracht. Er und seine ältere Schwester Elsi wurden zu Arbeitskommandos eingeteilt. Mordechai Nojovits erhielt die Nummer A 10 408, eintätowiert in den linken Unterarm, und kam in den Block 12.

Der 24-jährige Guy, der blendend Englisch spricht, versichert: "Wir tragen keinen Hass in uns. Wir werden aber nie vergessen, was geschehen ist." Am 8. Mai habe es kürzlich einen Aufmarsch der Neonazis gegeben in Berlin, weiß Guy Moshanov. "Das ist euer Land", sagt er den Schülerinnen am Stuttgarter Mädchengymnasium St. Agnes, und er sagt außerdem: "Das klingt hart, aber da müsst ihr aufpassen." Was Guy meint, ist: Wehret den Anfängen. Und er formuliert die Verpflichtung, die Verantwortung aus heutiger Sicht für die heutige Generation: "Schließlich wollen unsere beiden Länder, Israel und Deutschland, gute Beziehungen."

Woher er die Kraft nahm, Auschwitz und den 200 Kilometer langen Fußmarsch im Winter 1945 zu überleben? Die Stationen Sachsenhausen und Flossenbürg zu überstehen? Den Transport am 16. März 1945 nach Leonberg? Wo es jeden Tag nur eine Scheibe Brot gab und er einen Monat lang zu den mehr als 3000 Häftlingen und Zwangsarbeitern zählte? Woher er die Kraft nahm, kann Mordechai Nojovits nicht sagen. "Ich habe vor mich hinvegetiert, war ohne Gefühl. Ich wollte nur noch essen, auch Gras."

"Ist es Gott, der mir geholfen hat?" fragt der Mann heute, der damals bis auf 40 Kilogramm abmagerte. Am 15. April 1945, fünf Tage, bevor französische Truppen auf das KZ Leonberg stießen, ist Mordechai Nojovits mit anderen Häftlingen durch Stuttgart gejagt worden, berichtet Eberhard Röhm, der Vorsitzende der KZ-Gedenkstätteninitiative, der die Historie des Schreckens in zahlreichen Schriften aufarbeitete. Anschließend führte die Odyssee der Leonberger Häftlinge mit Güterzügen nach Bayern in andere Lager, wo auch Mordechai Nojovits bei Kriegsende von den Amerikanern befreit wurde.

Insgesamt fünf Enkelkinder sind für Mordechai Nojovits der feste Beweis dafür, dass das Leben weitergeht. Die jungen Leute studieren Musik, Medizin und Jura, und sie sehen die Welt unbelasteter als ihr Großvater. Wie seine Enkelkinder hat aber auch er neue Freunde gewonnen in dem Land, in dem ihm so viel Leid widerfahren ist. Eine Vergebung für Auschwitz?

Die kann es für ihn nicht geben. "Gott", sagt Mordechai Nojovits, und er lächelt ein bisschen dabei, "Gott hat dem Menschen ein Geschenk gemacht." Wenn die Fähigkeit des Vergessens nicht wäre, könnte ein Mensch, wollte ein Mensch wohl mit einer solchen Vergangenheit nicht länger existieren. Die Bürde der Erinnerung lastet schwer. "Jeden Tag", bekennt Mordechai Nojovits, "kann ich damit nicht leben."


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