Tiefe Betroffenheit über das Leid der Namenlosen

von Christoph Achenbach
Leonberger Kreiszeitung, 9. Mai 2005

LEONBERG - Mehrere hundert Leonberger und zahlreiche Gäste haben am Sonntagmorgen an der Enthüllung der Namenswand vor dem alten Engelbergtunnel teilgenommen. Unter ihnen waren auch elf ehemalige Häftlinge des KZ Leonberg, in dem von April 1944 bis April 1945 zeitweise über 3000 Männer unter menschenunwürdigen Verhältnissen litten.

"Die Zeremonie der Enthüllung war sehr schön." Albert Montal, Vorsitzender der Vereinigung der Deportierten von Charmes, lächelt. Er lächelt an dem Ort, an dem er vor mehr als 60 Jahren von seinen Peinigern gegen seinen Willen zur Arbeit gezwungen, an dem ihm sein Name weggenommen und durch eine Nummer ersetzt wurde. Dann verfinstert sich seine Miene: "Was mir nicht gefallen hat, war der heute nachgestellte Appell." Sein Schmerz und die Schmerzen sind mit einem Mal wieder präsent.

Aus der Menge heraus rufen Jugendliche Namen und stellen sich vor der Wand auf. Jeder hält ein Schild in der Hand, auf dem eine fünfstellige Nummer steht. Als eine gefühllose, laute Stimme die Stille durchschneidet und die Nummern scharf, keinen Widerspruch duldend, aufruft, macht sich Betroffenheit vor dem Portal breit - nicht nur unter den Betroffenen. Für die meisten war dies der bewegendste Moment an diesem kalten und nassen Sonntagvormittag. "Eine Nummer, das heißt: stundenlangen Zählappellen unterworfen zu sein im Sommer wie im Winter. Eine Nummer wollten eure Peiniger aus euch machen: Ohne Hoffnung, ohne alles, was einen Menschen zum Geschöpf und Mitmenschen macht", versuchte der Vorsitzende der Leonberger KZ-Gedenkstätteninitiative, Dr. Eberhard Röhm, deutlich zu machen, welcher körperlichen und seelischen Folter die Männer im KZ Leonberg und bei der Zwangsarbeit im Engelbergtunnel ausgesetzt waren.

Unter einem weißen Zelt saßen gestern diejenigen, die vor 60 Jahren zur Zwangsarbeit in die beiden Tunnelröhren getrieben wurden. Sie sind mit ihren Familien gekommen. Aus Slowenien, Frankreich, Israel, Italien, Ungarn, Deutschland, Tschechien, den Niederlanden und aus der Ukraine haben die Menschen nach Leonberg gefunden, um am 8. Mai 2005 dem Ende der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und dem Ende des schrecklichen Alltags für die KZ-Häftlinge zu gedenken.
"In der unmittelbaren Zeit nach dem Krieg wäre eine solche Gedenkfeier nicht möglich gewesen", sagte Leonbergs Oberbürgermeister Bernhard Schuler. Er trug seine Erinnerung an ein jüdisches Paar weiter, das wegen des Holocausts nie wieder deutschen Boden betreten wollte. "Es ist nicht selbstverständlich, dass die Opfer der Gewaltherrschaft mit ihren Enkeln nach Leonberg gekommen sind", drückte Schuler seinen Respekt gegenüber der außergewöhnlichen Gesprächsbereitschaft und Offenheit der ehemaligen Häftlinge aus.

"Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen in der Lage sind, anderen Menschen anzutun", wandte sich Landrat Bernhard Maier an die Anwesenden. Zwar sei der 8. Mai für die Deutschen kein Tag zum Feiern. "Klar" sei aber auch, dass der 8. Mai vor 60 Jahren ein Tag der Befreiung gewesen sei. "Er hat uns alle von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befreit", so Maier. Nach dem Krieg hätten allzu viele vorgegeben, vom Holocaust nichts gewusst oder geahnt zu haben, sprach Maier das Problem des Wegschauens, des Nicht-hinsehen-Wollens an. Eine kollektive Schuld des deutschen Volkes könne es jedoch nicht geben, weil es auch keine kollektive Unschuld gebe. "Jeder, der die Zeit erlebt hat, frage sich nach seiner Verstrickung. Jeder, der sie nicht erlebt hat, wie er möglicherweise beteiligt gewesen wäre", mahnte der Landrat. Weil wir Versöhnung mit den KZ-Häftlingen suchten, müsse die Erinnerung an die Unmenschlichkeit aufrecht erhalten bleiben: "Ohne Erinnerung kann es keine Versöhnung geben."

Bevor sechs Jugendliche die mit Tüchern verdeckte, von dem Künstler Johannes Kares entworfene Gedenkwand enthüllten, erklärte der Vorsitzende der KZ-Gedenkstätteninitiative, Röhm, Symbolik und möglichen Umgang mit der Stahlwand. "Bei der Herstellung der Wand wurden einzelne Buchstaben aus dem Stahl herausgeschnitten. Es sind Leerräume entstanden, voller Geheimnis", sagte Röhm. Der Betrachter könne die Namen mit Gedanken, Wissen und Fantasie füllen. Es stellen sich angesichts von fast 3000 Namen auch Fragen. Woher kam dieser Mann? War er Jude, Christ, Kommunist oder Sozialist? Vielleicht lebt er heute noch. "Es wird ein langes, nicht abzuschließendes Gespräch mit diesen Namen werden, wenn wir die Hohlräume der Buchstaben zu füllen versuchen, um nachzuempfinden, was hier vor 60 Jahren geschah", sagte der Pfarrer i. R.
Auch die Miene Albert Montals, der gemeinsam mit seiner Frau und Enkelin vor der Wand stand, erhellt sich wieder, als die Enthüllungs- und Gedenkfeier zu Ende ist. "Ich wusste nicht, dass ihr nur mit Nummern angesprochen wurdet", sagt Enkelin Amandine. Bereits gestern haben sich die meisten Besucher wieder auf den Heimweg gemacht. Den meisten der anwesenden elf ehemaligen Häftlingen war anzusehen, dass sie ihre Teilnahme an der Gedenkfeier und ihren Besuch in Leonberg nicht bereut haben. Auch wenn es für sie sicher ein schwerer Gang gewesen ist.

Erinnerung an den verfluchten Tunnel

"Der 8. Mai 1945, das Kriegsende. Das Ende unseres Leidens. Vorbei die Sklaverei, die Qual, der Hunger, die Zwangsarbeit, der Tod Tag für Tag, die Vernichtung. Die nationalsozialistische Diktatur hat kapituliert. Heute folgen wir erneut Ihrer Einladung, weil Sie Ihre Arbeit für das Gedenken fortsetzen. Eine Arbeit, die die Erinnerung für lange Zeit an den verfluchten Tunnel sichern wird und an eine Zeit, in der die Menschlichkeit verleugnet wurde. Diese Wand ist ein Denkmal, das als Symbol für das Leiden und den Wahnsinn der Menschen steht.

Wir sind davon überzeugt, dass unsere Opfer, unsere Toten, uns verpflichten, den Weg des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Respekts vor dem Menschen zu gehen. Das vereinte Europa muss das Licht sein, das die Demokratie, die Freiheit und die Verteidigung der Rechte jedes einzelnen Menschen in die Welt trägt. Das war unser Kampf. Die jungen Generationen haben die Pflicht, diese Aufgabe weiter zu verfolgen. Das ist unser Appell." (Auszug aus der Rede des ehemaligen KZ-Häftlings Albert Montal bei der Enthüllung der Namenswand vor dem Engelbertunnel.)


Tage des Gedenkens zu Ehren der Opfer

LEONBERG - Mit der gestrigen offiziellen Enthüllungs- und Gedenkfeier vor dem südlichen Portal der Weströhre des alten Engelbergtunnels waren weitere Veranstaltungen verknüpft. So zeigte die KZ-Gedenkstätteninitiative in der Tunnelröhre auch eine Ausstellung mit Gegenständen aus dem KZ und der Messerschmitt-Produktion.

Leonbergs Oberbürgermeister Bernhard Schuler empfing die rund 80 Gäste aus Frankreich, den Niederlanden, der Ukraine, Tschechien, Italien, Deutschland, Slowenien, Israel und Ungarn am Samstag im Neuen Rathaus. Von dort ging die Gruppe zum Grab der in Leonberg verstorbenen Häftlinge des KZ auf den Friedhof Seestraße, wo Kränze niedergelegt wurden. Beim anschließenden Treffen im Haus der Begegnung hatten die Menschen Gelegenheit, sich bei einem Imbiss auszutauschen. Renate Stäbler, stellvertretende Vorsitzende der KZ-Gedenkstätteninitiative, stellte jeden der anwesenden ehemaligen Häftlinge und seine Familie vor.

Am Sonntagmorgen wurde aus Anlass des 8. Mai und der Enthüllung der Namenswand in der evangelischen Blosenbergkirche ein ökumenischer Gottesdienst gefeiert. Die sehr persönliche Predigt hielt Pfarrer i. R. Eberhard Röhm. Den Gottesdienst gestalteten der katholische Pfarrer Dr. Dietmar Rollny, der evangelisch-methodistische Pastor Uwe Metz und Pfarrer Manfred Bürkle von der Blosenbergkirche.

Irrtümlicherweise gab es in unserer Ausgabe vom vergangenen Samstag in dem Bericht über das Leonberger KZ einen "Zahlendreher". Das KZ wurde im April 1945 aufgelöst und nicht im April 1954, wie es fälschlicherweise hieß. An anderer Stelle des Artikels wurde das Datum dagegen korrekt genannt.


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