Viele Seiten Fleißarbeit im Zeichen der Erinnerung

Leonberger Kreiszeitung vom 22. Oktober 2009

Vor dem Gedenkstein im einstigen Leonberger KZ, dem heutigen Samariterstift, haben acht Schüler des Robert-Bosch-Gymnasiums Gerlingen die Autobiographie des jüngsten Leonberger KZ-Häftlings Albert Montal überreicht.

Die Französisch-Schüler Lars Bischoff, Nicole Eichhorn, Miriam König, Cornelia Krauss, Stefanie Pauen, Tim Schick, Florian Stuhler und Tobias Willmann mit ihrem Lehrer Michael Volz lernten den Zeitzeugen im vergangenen Sommer kennen und haben sich spontan bereit erklärt, seine Autobiographie ins Deutsche zu übersetzen.

Ein „glücklicher Eberhard Röhm“ (so der KZ-Gedenkstätten-Initia über sich selbst, Bildmitte) bekam gestern ein Exemplar überreicht. Wir drucken in Auszügen Montals Beschreibung seiner Leonberger Häftlingszeit.

"Wir Gestreiften sind wie Pestkranke"

Auszüge Aus der Autobiografie von Albert Montal aus Charmes in den Vogesen über seine Zwangsarbeit im KZ Leonberg.
Ein weiterer Abtransport, Kälte, Schnee. Am Abend kommen wir in einer Stadt bei Stuttgart an, sie heißt Leonberg. Es ist Nacht, wir sind vor den noch im Bau befindlichen Gebäuden und werden in die Zimmer gedrängt, wo wir Dreistockbetten mit jeweils einer kleinen Decke vorfinden. Das wird unser Lager sein. Es gibt keine Scheiben in den Fenstern, etwas weiter entfernt befindet sich ein anderes Lager, das wir am anderen Morgen kennen lernen werden. Jenes ist das alte Lager und wir sind im neuen.

Wir werden in einer Fabrik arbeiten müssen, die Flügel für Messerschmitt-Flugzeuge herstellt. Es ist eine geheime Waffe, das Me262, das erste Düsenflugzeug der Welt. Um Bombardierungen zu vermeiden, versteckt sich die Kriegsindustrie in Minen und Tunneln. In Leonberg werden die beiden Tunnel der Autobahn zweckentfremdet und zu einer unterirdischen Fabrik verwandelt. Wir sind die versklavten und kostenlosen Arbeitskräfte, die die SS an die Rüstungsindustrie ausleiht. 3000 Deportierte arbeiten in zwei Schichten, die eine von 18 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, die andere von 6 Uhr morgens bis 18 Uhr abends, 7 Tage die Woche. Eine Stunde vor Abmarsch Appell, Ausgabe des immer gleichen Imbiss: morgens und abends eine Kaffee genannte Flüssigkeit, mittags und mitternachts gibt es Steckrübensuppe oder Kohlblätter, die im Wasser schwimmen.

Wir sind abgemagert, dieser Hunger verlässt uns nie, sobald auch nur eine Schale auf dem Boden gefunden wird, löst dies eine Rauferei aus, die Stärksten sind die Russen. Wir stammen aus allen Nationalitäten: Albanien, Belgien, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Luxemburg, Norwegen, Polen, Russland, Tschechoslowakei, Ungarn, ganz Europa ist Opfer der Nazis, die Mehrheit sind Juden.

In diesem Tunnel herrscht ein ohrenbetäubender Lärm, die Metallbleche aus Schweraluminium werden mit Presslufthämmern genietet. Jeder einzelne verursacht den Lärm eines Schlagbohrers und es sind mindestens hundert. Man versteht sich nicht, es gibt keine Belüftung, mehr als tausend Männer arbeiten in diesem Tunnel. Wir haben nichts miteinander zu tun, wir Gestreiften sind wie Pestkranke. Es ist Winter, wegen unserer Arbeitszeiten ziehen wir nachts los und kommen nachts zurück. Meine traurigste Erinnerung ist die Weihnachtsnacht. Ich bin in der Nachtschicht, das Abendessen war besser als sonst, aber wir haben nichts davon gesehen, die Kapos und andere Privilegierte haben es gegessen und sicherlich auch etwas getrunken, da sie den Appell vergessen haben. Sie haben uns mit Knüppelschlägen herausgetrieben und uns ohne Abendessen bis zum Tunnel rennen lassen. Um Mitternacht ist die Pause länger: eine Stunde statt einer halben. Diese Heilige Nacht weckt die Erinnerung an die Weihnachtsfeiern in unseren Familien. Ich bin mit einem jungen Belgier zusammen, wir reden und er erzählt mir von den Seinen.

In der Nachtschicht wird uns im Tunnel um Mitternacht Suppe ausgegeben, nachdem der Letzte bedient wurde, bleibt noch etwas Suppe übrig und der Kapo gibt an die Schnellsten noch mal etwas aus; das ist ein Gedränge, denn nur einige von uns bekommen noch mal Suppe. Auf Deutsch nennt man das "Nachschlag". Mit meinem Kamerad Gérard, der so alt ist wie ich, drängeln wir uns vor, um näher an den großen norwegischen Feldkessel zu gelangen; der Kapo steht da, und hält die über einen Meter lange Suppenkelle in der Hand, um die nach vorne drückende Masse verscheuchen zu können. Er wirbelt sie durch die Luft. Ich ducke mich schnell, um nicht getroffen zu werden, aber Gérard neben mir wird heftig erwischt; er fällt zu Boden, ich helfe ihm wieder auf, damit er nicht niedergetrampelt wird. Sein ganzes Leben wird er die Folgeschäden ertragen müssen.

Ich schlafe immer noch bei meinen Freunden, die täglich in den Tunnel gehen. Sie sind mehr und mehr ausgelaugt. Es gibt keinerlei Hygiene, wir sind mit Läusen bedeckt, schmutzig, wir wechseln niemals unsere Kleidung. Die verschiedenen Krankheiten befallen diese armen, abgemagerten Männer. Sie bekommen die Ruhr, Abszesse, Tuberkulose und einmal sogar eine Typhusepidemie.

Die ganze Kolonne, mit der wir abgefahren sind, wird nach Dachau abgeschoben, sie sind eigentlich nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Ich bleibe mit einem kleinen Russen zurück. Alex ist 15 Jahre alt, so wie ich. Er ist für den Stubendienst der Zimmer verantwortlich und insbesondere für das Zimmer des Chefs."


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