Wann wird Riccardo Goruppi seine Nummer vergessen?

von Günter Scheinpflug
Stuttgarter Zeitung, 11. Juni 2004

Zu einer Namenswand der KZ-Gedenkstätteninitiative gibt es bereits die Zustimmung der Leonberger Verwaltungsspitze
LEONBERG. Für die KZ-Gedenkstätteninitiative ist es ein denkwürdiger Abend gewesen. Mit der Namenswand wurde eine neues Modell vorgestellt, das an das Leonberger Konzentrationslager erinnern soll. Zudem wurde ein Film über den Exhäftling Riccardo Goruppi gezeigt.

Der Mann spricht langsam und konzentriert: "Vierzigtausendeinhundertachtundvierzig", sagt Riccardo Goruppi in flüssigem Deutsch. Die Zahl kommt ihm nicht leicht über die Lippen, das merken seine Zuhörer, auch nicht 59 Jahre danach. Wer sie damals nicht sagen konnte, wurde erschossen. Riccardo Goruppi ist einer von etwa 3000 Häftlingen, die im Leonberger Engelbergtunnel Zwangsarbeit leisten mussten. Der heute 76-Jährige fertigte Nieten an, die für die Tragflügel von Messerschmitt-Bombern gebraucht wurden. Zwölf Stunden am Tag.

Vom 31. Dezember 1944 bis Ende April 1945 war er in Leonberg inhaftiert. Als er als 17-Jähriger an den Engelberg kam, war sein Vater Edoardo dabei. Als er wieder abtransportiert wurde, war der Vater tot. Wann das genau war, kann er nicht mehr sagen. Er hatte das Zeitgefühl verloren. "Das Schlimmste war für uns zunächst, keinen Namen mehr zu haben", sagt Riccardo Goruppi, der heute noch seine ganz persönliche Bewältigungsarbeit leistet. In dieser Woche hat er erneut das Grab seines Vaters in Leonberg besucht.

Die Namenszüge der Goruppis und mit ihnen die bisher ermittelten rund 2700 weiteren Namen der einstigen Inhaftierten sollen nun bald an einem Mahnmal auftauchen. Nachdem der Gemeinderat das Konzept der Gedenkstätteninitiative in Form eines sieben Meter hohen Wachturms abgelehnt hatte, soll jetzt der einstigen Zwangsarbeiter mit einem 26 Meter langen Namensband gedacht werden. Dem Vernehmen nach hat Oberbürgermeister Bernhard Schuler während eines Empfangs nochmals zugesichert, dass die Verwaltung gegen das neue Konzept des Gedenkens nichts einzuwenden habe.

Die Stadt und die Gedenkstätteninitiative wollen demnach den Vertrag nächste Woche unterzeichnen, sodass die geplante drei Meter hohe Wand des Künstlers Johannes Kares vor dem Tunnelportal errichtet werden kann. Sie besteht aus sechs Millimeter dicken Stahlplatten, auf denen die Namen der KZ-Häftlinge in drei Zentimeter großen Buchstaben verewigt werden. 50 000 Euro kostet das Werk, und die Initiative hofft auf Spenden von Stiftungen und aus der Wirtschaft. Diese Summe soll bis spätestens nächstes Jahr gesammelt sein, wenn der 60. Jahrestag der Auflösung des Lagers feierlich begangen wird.

Vielleicht kommt auch eine Spende von der Fondazione Memoria della Deportazione aus Italien, dessen Direktor Bruno Enriotti zusammen mit Riccardo Goruppi und dessen Ehefrau Eda angereist war. Schließlich stand die Filmpremiere eines Dokumentarfilms von Angelo Ferranti auf dem Programm. "La lezione" zeichnet eine Unterrichtsstunde am Kepler-Gymnasium Leonberg auf, in der Goruppi über sein Leben und Leiden erzählt sowie in Rück- und Zwischenblenden die Stationen seiner Inhaftierung und seiner mehrmaligen Deportation.

Noch heute fällt es dem einstigen Partisanenkämpfer aus Triest schwer, seinen Enkelkindern alles begreiflich zu machen. Wie das war, als er zuerst in Dachau als Nummer 135 423 inhaftiert war, nach Leonberg kam, dann zurück ins Bayerische nach Mühldorf, Kaufering und Schwabhausen.

Ihr Zug, in dem sie zusammengepfercht waren, diente als Schutzschild der Nazis gegen die alliierten Angriffe und wurde bombardiert. Flüchtende erschoss die SS. Riccardo Goruppi sagt: "Dass ich am Leben blieb, war unheimliches Glück." Um sich zu retten, kletterte er über Leichen und versteckte sich in einem Waggon. Dann habe ein oder zwei Tage lang Todesstille geherrscht. Bis er in einen Gewehrlauf blickte: "Ich hatte das Gesicht eines schwarzen US-Soldaten vor mir. Er weinte."

Erläuterung: Riccardo Goruppi musste nicht Nieten herstellen, sondern mit Nieten arbeiten bei der Fertigung von Flugzeugtragflügeln.


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