Wie Hitler mit sozialen Wohltaten den Volksstaat korrumpierte

von Daniel Renkonen
Professor Dr. Götz Aly rollt an seinem einstigen Lernort Albert-Schweitzer-Gymnasium das ausgeklügelte Finanzsystem der Nationalsozilisten auf
Leonberger Kreiszeitung, 19. Januar 2006

Leonberg. „Hitlers Volksstaat" heißt das neue Buch von Professor Dr. Götz Aly. Darin vertritt der Holocaustforscher eine mutige These: Die sozialen Wohltaten korrumpierten das deutsche Volk und machten es damit gefügig. Am Dienstag diskutierte Aly am ASG. Das Atrium des ASG war fast bis auf den letzten Platz besetzt. Warmer Beifall empfing den Frankfurter Gastprofessor für interdisziplinäre Holocaustforschung, als er sich von seinem Stuhl erhob. „Für mich ist das ja heute hier ein Heimspiel“, bemühte der gebürtige Heidelberger die Fußballersprache.

Vor 45 Jahren drückte er als Schüler die Bank im ASG. Die meisten im großen Foyer der Schule konnten sich an diese Zeit nicht mehr erinnern. Nur Eberhard Röhm, Vorsitzender der Leonberger Gedenkstätteninitiative, ist dieser junge, aufgeschlossene Mann von damals noch gut in Erinnerung geblieben. Ein „aufmüpfiger Schüler“ sei er gewesen. „Diese Schüler mochte ich", ließ er die Zuhörer wissen.

Röhm war es auch, der den Kontakt zu dem Gastprofessor der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität herstellte. Den einstigen ASG-Schüler Aly und den pensionierten ASG-Lehrer Röhm eint vor allem eines: die Hartnäckigkeit, mit der sie die Gräueltaten des Naziregimes aufdecken und das „Unerklärliche in Erklärung bringen wollen", wie es Schulleiter Ulrich Thiele in seiner Eröffnungsrede formulierte. Hierzu hat Dr. Götz Aly mehrere Bücher zur Sozialpolitik und Zeitgeschichtsforschung veröffentlicht.

Hierfür wurde er im Jahr 2002 unter anderem mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet. Der Professor fragt sich bis heute, wie es passieren konnte, dass die Nazis ein ganzes Volk in den „Rassen-Raub-Krieg“ in Europa ziehen konnten. Seinen Recherchen zufolge wurden zwischen 1939 und 1945 etwa 17 Millionen Männer in die Wehrmacht eingezogen. „Was bringt sie dazu, vom Nordkap bis in den Kaukasus oder nach Kreta zu marschieren“, fragte Aly die Besucher. Betretenes Schweigen im Publikum. Obwohl seine Forschungen noch nicht abgeschlossen sind, steht für ihn fest: „Die Deutschen waren nicht nur ideologisch verrannt.

“Es müsse andere Gründe geben, weshalb das NS-Regime einen so großen „innenpolitischen Rückhalt“ in großen Teilen der Bevölkerung gehabt habe. Der Schlüssel für diese „Gleichgültigkeit" (Aly) sieht er in Hitlers perfider Sozialpolitik. Sie beglückte den kleinen Mann mit Wohltaten und holte sich das Geld eher bei den Vermögenden. „Ich bin mir sicher, wenn die Regierung Schröder vor der letzten Bundestagswahl die Renten um drei Prozent hätte erhöhen können, ohne die Lohnnebenkosten heraufzusetzen, hätte sie die Wahlen noch gewonnen", spannte der Redner den Bogen zur aktuellen Bundespolitik.

Die Reichsfinanzreform beglückte den deutschen Arbeiter

Nur welche sozialen Wohltaten waren das, von denen der Professor spricht? Dazu gehörte laut Aly unter anderem die so genannte Reichsfinanzreform im Jahr 1934, die den deutschen Arbeiter und seine Familie regelrecht beglückte. Aus dieser Zeit rührt beispielsweise das Ehegattensplitting her. Außerdem wurde die Kilometerpauschale für Fahrten von der Arbeitsstätte zum Wohnort geschaffen. Zudem stiegen die Renten unter der Reichsregierung Hitler um 15 Prozent. Das nötige Geld holte sich das NS-Regime unter anderem von den wohlhabenden Grundstücksbesitzern. Insgesamt wurden durch diese „symbolische Maßnahme" (Dr. Aly) rund acht Milliarden Reichsmark in die. Kasse gespült. „So eine Reichensteuer löste die Finanzprobleme nicht, aber sie erweckte den Eindruck von sozialer Gerechtigkeit."

Die Unternehmen sind kräftig zur Kasse gebeten worden

In diesem Punkt seien die Nationalsozialisten „außerordentlich“ gut gewesen. Auch die Unternehmen sind nach den Recherchen des Holocaustforschers kräftig zur Kasse gebeten worden. So stieg die Körperschaftssteuer unter Hitler von anfangs 35 auf später 55 Prozent im Krieg an. „Mir geht es darum, mit diesen Zahlen die öffentliche Wirkung solcher Maßnahmen zu verdeutlichen, stellte Aly klar. Wie perfide das Schreckensregime der NS funktionierte, wird an der Sozialausgleichsabgabe für Zwangsarbeiter deutlich. Sie mussten diese 15-prozentige Abgabe von ihrem ohnehin niedrigen Lohn abzwacken.

Hitlers Krieg war sehr teuer. Nur seine Ausgaben waren zur Hälfte gedeckt, so der Wissenschaftler. Nicht zuletzt deshalb, weil er bei seinen „Rassen-Raubzügen durch Europa“ die intervenierten Länder regelrecht ausplünderte. „Die deutschen Soldaten kauften Europa förmlich leer, ohne eine Reichsmark in der Tasche zu haben.“ Mit seinem tief schürfenden Vortrag sorgte der Professor im ASG für eine lebhafte Diskussion. Viele Zuhörer bezweifelten, dass es vor allem die sozialen Wohltaten waren, die das NS-Regime so lange an der Macht hielten. Die Nachforschungen werden weitergehen.


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