Interview mit Oded Neufeld

Oded Neufeld, eines der drei Kinder von Moshe Neufeld, wurde in den 60er Jahren im Kibbuz Barkai in Israel geboren, wo er bis heute lebt.  Er ist Leiter einer Schule. Sein älterer Bruder Tsvi lebt ebenfalls dort, seine Schwester Rachel, die älteste der drei,  lebt in einem Kibbuz im Süden Israels. Durch seine Kindheit und Jugend im Kibbuz hatte er ein eher distanziertes Verhältnis zum Vater, zusätzlich belastet durch dessen schwierige Persönlichkeit, die er auf die Traumatisierung durch die KZ-Inhaftierung zurückführt.

Im Gegensatz zu seiner Schwester versuchte er aus Selbstschutz, sich nicht zu intensiv mit dem Schicksal seines Vater auseinanderzusetzen. Aber ihm wurde im Laufe der Zeit klar, dass er sich dem nicht wirklich entziehen konnte.

Das Interview mit ihm und seinem Bruder Tsvi fand im Raum der KZ-Gedenkstätte statt. Die beiden Brüder waren anlässlich der Vorstellung des Bildbands  „Bilder eines Shoa-Überlebenden“ im März 2019 nach Leonberg gekommen.

Gleich zu Beginn aber auch öfter während des Gesprächs betont Oded, dass er sicher kein guter Gesprächspartner ist, weil er nicht genug oder nicht ausreichend interessantes „Material“ über das Trauma seiner Eltern liefern kann und auch selber nicht genug bzw. „richtig“  von diesem Trauma beeinflusst worden sein. Er ist sich nicht sicher, was ein Trauma konkret bewirkt, ob es nicht einfach eine Erklärung für Dinge ist, die bei einem sehr schief gelaufen sind. Er hat für sich herausgefunden, dass seine Art und Weise sich mit einer Situation abzufinden, darin besteht, einfach nicht zu viel darüber nachzudenken. Aus diesem Grund sei das Interview auch nicht einfach für Ihn, weil es nämlich verlange, sich über Details und Gefühle Gedanken zu machen.

Er selber möchte nicht als Opfer gesehen werden, denn die Opfer seien seine Eltern gewesen. Opfer zu sein bedeutet für ihn auch in Therapie zu gehen oder Entschädigungsgelder zu bekommen und damit wolle er nichts zu tun haben. Das alles sei nicht gut für die eigene Persönlichkeit. Es sei auch Selbstschutz, da er Angst hat, es könne sich ein Trauma entwickeln, wenn er sich zu viel mit dem Thema beschäftigt. Er vermutet, dass da vielleicht doch etwas sein muss, da er ja nicht so wahnsinnig viel später nach den Ereignissen geboren wurde (Anm. ca. 20 Jahre danach). Oded meint, dass er gut unterdrücken könne und ohnehin auch kein sehr gutes Gedächtnis habe.

Wenn er etwas getan habe, um die Erinnerung seines Vaters aufrecht zu erhalten, dann vor allem, weil ihn sein Vater darum gebeten habe: „ Um ehrlich zu sein, ich selber wollte nicht zu viel von alledem wissen.“ Genau wie sein Vater habe er immer versucht vor der Geschichte wegzurennen, denn im eigentlich sei er schon eine emotionale Person und wolle sich deshalb emotional nicht zu sehr involvieren.

Sein Bruder Tsvi interessiere sich auch nicht so wahnsinnig für das Thema, die Schwester hingegen schon. Sie, die Brüder, könnten es andererseits auch rationaler betrachten und ordneten nicht alles unter dem Überbegriff „Second Generation“ ein. Tsvi macht z.B. auch bei den „guided tours“ in Auschwitz mit. Das Show-Element, was man dort vorfinde, sei ihm jedoch sehr zuwider und er könne nicht nachvollziehen, warum man das Leid der Vorfahren vor anderen so ausbreite. Die Zeremonien arteten oft in eine Art Show aus.  Aber die heutigen Israelis, von denen 90 Prozent nicht einmal mehr Verwandte hätten, die Überlebende sind/waren, müssten so etwas eigentlich nicht machen. Ja, er habe auch geweint in der Gaskammer, aber nach einigen Minuten sei er wieder rausgekommen und habe dieses Gefühl nicht in die normale Welt mitgenommen. Und das nur, weil er in diesen Momenten über seinen Vater nachgedacht und sich in ihn reinversetzt habe.

Aus diesem Grunde habe er auch mit seiner Tochter ausgemacht, dass z.B. er  mit ihr nur unter einer Bedingung nach Auschwitz fährt, wenn es kein Holocaust-Trip bzw. Camp-Tourismus wird. Auschwitz ist seiner Meinung nach eine regelrechte Tourismus-Industrie.

Er will seine Kinder nicht mit diesem Thema belasten. Es solle sich nicht auch noch die nächste Generation aus dieser Misere heraus entwickeln. Sie seien in eine freie Welt geboren und würden ihre Herkunft kennen, aber das sei dann auch genug. 

Seine Schwester Rachel empfindet er als ihm recht ähnlich, aber doch noch wesentlich emotionaler und akademisch interessiert. Aber was das Thema mit dem Vater angeht, sei sie ganz anders. Sie habe ihre ganze Lebensgeschichte um dieses Thema herum aufgebaut. Sie ist seiner Meinung nach das, was man Zweite Generation nennt, wobei er selber sich nicht als solche bezeichnen würde. Er findet nicht, dass er den Titel „Zweite Generation“ und die damit einhergehende Behandlung verdient hat, denn persönlich habe er ja keine schlechten Erfahrungen gemacht. Seine Schwester steigere sich seiner Meinung nach zu sehr rein: „Sie war davon angezogen wie eine Motte von einer Kerze. Das kann schlecht ausgehen, wenn man sich dabei die Flügel verbrennt“. Sie habe extra gelernt, wie man Interviews führt, um den Vater richtig zu interviewen. Für sie sei das der Inbegriff von Identität.

Die Schwester, die Anfang der 50er Jahre geboren wurde, erlebte den Vater in einer anderen Lebensphase, die Ereignisse im Krieg lagen noch nicht so lange zurück und er war innerlich verschlossener. Während sie aufwuchs, soll sie sich ziemlich vaterlos gefühlt haben. Erst mit seiner Geburt, so habe ihm sein Bruder Tsvi erzählt, habe sich der Vater etwas öffnen können. Wenn er sich zu seinen Geschwistern positionieren solle, so würde er sich irgendwo in der Mitte zwischen Rachel mit ihrer oppositionellen Identität und seinem eher nach Harmonie und Ausgleich strebenden Bruder Tsvi ansiedeln.

Er sieht seine Rolle als Nachfahre so, dass man aus der Geschichte lernen sollte. Ein Land sollte sich mehr mit der eigenen Geschichte beschäftigen als damit, wie schlimm andere Länder sind (z.B. Deutschland), nur um eigene Missetaten zu rechtfertigen. Das Verstehen sei wichtiger als nur darüber nachzudenken, dass das eigene Volk vor 80 Jahren ermordet wurde. Andererseits gehe es auch nicht darum, Deutschland eine besondere Rolle zuzusprechen, nur weil sie wegen ihrer Schuldgefühle  jetzt nett seien. Deutschland sei wie jedes andere Land. Er habe die Einladung nach Leonberg angenommen, um sich den Dingen, die er zuvor aus einem Selbstverteidigungsmechanismus heraus ignoriert hatte und in die der Vater die Kinder auch nicht reinziehen wollte, zu stellen.

Als er in Leonberg war, sei er überrascht gewesen, wie viele Leute sich mit diesem Thema beschäftigen. Sein Vater sei ja nicht einzigartig unter den Tausenden, die alle das Leonberger Lager durchgemacht hätten. Und es sei erstaunlich, dass so viele Interessierte gibt: „Es gab nichts Außergewöhnliches an ihm, außer dass er 50 Jahre später anfing zu malen. Es waren keine Bilder über Leonberg. Ich glaube, er wusste nicht einmal, wo Leonberg ist. Wir haben niemals das Wort Leonberg gehört. Es ist einfach ein abgelegener Ort mit einer Fabrik von Messerschmitt.  Ja, da ist alles reiner Zufall.“  Alles, was der Vater malte, sei letztendlich immer auf das gleiche Thema hinausgelaufen, nämlich seine Erlebnisse zu verarbeiten. Seine Bildmotive waren daher immer dieselben – so wie es bei mittelalterlichen Malern stets „Madonna und das Kind“ war, so sei es beim Vater der Holocaust gewesen.

Da er als Kind mit seinen Geschwistern nicht zuhause sondern im Kinderhaus des Kibbuz aufgewachsen sei, hätten sie auch nie über seine Bilder gesprochen.  Er hätte die Bilder damals nicht verstanden und auch nicht gewusst, dass es um den Holocaust ging. Für ihn waren es die Dämonen aus der Vergangenheit des Vaters. Der Vater habe durch die Bilder gesprochen wie in der ersten Person. Er fand das sehr mutig, wie sich der Vater damit exponierte.

Überhaupt sei das Verhältnis zum Vater , aber auch zur Mutter, durch das Kibbuz-System nicht sehr eng gewesen. Er habe nur wenig mit ihm zusammen gemacht, seine Welt erschien dem Sohn außer Reichweite. Der Vater habe nie mit ihm über dieses Thema geredet – vielleicht sei es sogar diese ganze Generation gewesen, die nie mit ihren Kindern darüber geredet hätte,  um sie vor einem Trauma zu beschützen, meint Oded. Daher seien diese Erlebnisse seines Vaters zwar interessant, aber gleichzeitig auch irgendwie unbedeutend für ihn.

Ab und zu hätte der Vater kurze Phasen der Verbindung mit ihm gehabt, er selber aber hätte nie versucht das Verhältnis zu ihm enger zu gestalten. Es sei nun mal an den Eltern zu entscheiden, wie eng sie den Kontakt zu ihren Kindern wollten. Er sei ein Vater gewesen, der existierte und gleichzeitig auch nicht existierte.  Oded beschreibt das Verhältnis zu seinem eigenen Sohn als viel näher. Es gebe allenfalls ein unterschiedliches technologisches Verständnis, aber im Ganzen empfinde er eine sehr große Übereinstimmung mit ihm.

Für ihn sei das unemotionale Verhältnis zum Vater ok gewesen, er meint aber, dass die Erfahrungen der Geschwister nicht so „neutral“ waren wie die seinen. Der Vater sei  zwar nie gewalttägig gewesen, aber häufig schlecht gelaunt. Aus der Erziehung habe er sich rausgehalten, dafür und für die ganze harte Arbeit sei die Mutter zuständig gewesen. Es war die klassische Rollenteilung, meint Oded. Sie hatte nicht einmal eine Kreditkarte, traf keine eigenen Entscheidungen und hatte keine Meinung zu vielen Dingen. Heute erwarte sie von den Kindern Verantwortung ihr gegenüber, obwohl sie  selber nie Verantwortung für die Kinder hatte und sie deshalb  auch nie so ein enges Verhältnis zueinander besaßen. Natürlich ist ihm klar, dass sie nichts dafür konnte, genauso wenig wie der Vater etwas für seine negativen Verhaltensweisen gekonnt habe. Er, Oded, habe sehr lange dafür gebraucht, die Eltern nicht zu verurteilen. Es sei ihm erst später gekommen, dass diese ganzen schrecklichen Dinge den Geist und die Persönlichkeit zerstört haben müssen. Diese Menschen seien zwar Überlebende, aber sie lebten wie eine Art Zombie. Und so habe man als Zweite Generation immer das Gefühl, dass man nach seinen Eltern schauen müsse

Es glaubt, dass es daher für alle einfacher gewesen sei so zu tun, als ob die Auswirkungen gar nicht so schlimm waren.

Der Vater sei deshalb sogar beim Psychologen gewesen, da er nicht verstehen konnte, dass er überlebt hatte und sogar 80 Jahre alt werden konnte. Er hat auch selber andere Überlebende beraten.

So gesehen war es gut, dass sie als Kinder im Kinderhaus des Kibbuz aufgewachsen sind, ist Oded der Überzeugung, Viele der Zweiten Generation würden nämlich die schlechte Behandlung, die sie durch die Eltern erlebt hätten, auf das nationale Trauma schieben und in Selbstmitleid schwelgen. Damit schöben sie die Eigenverantwortung  für ihr eigenes Tun und Lassen ab. In diese Position wolle er sich nicht begeben. Auch wenn er das Kibbuzsystem für die mangelnde Nähe zwischen Eltern und Kinder verantwortlich macht und er sich, seine Geschwister und die anderen Kinder als Teil eines sozialen Experiments sieht , so empfand er es doch als Glück so aufgewachsen zu sein. Sie alle hätten davon profitiert. Es habe eben auch eine Schutzfunktion gehabt – das Aufwachsen ohne schlechte bzw. traumatisierte Eltern. Denn eine zentrale Idee sei gewesen, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen.

Insgesamt aber sieht er im Kibbuz-System auch viele Mängel – vor allem, dass es den Bewohnern die Überlebensfähigkeit genommen habe: alles sei den Menschen abgenommen worden, sie konnten nichts alleine entscheiden und es war eine Welt ohne Eltern und Kinder. Erst seine Generation habe Veränderungen angestoßen, sie sei realitätsnäher. In der Grundidee, kein eigenes Geld zu haben und alles zu teilen, schien es, so Oded, schon sehr liberal, auf der anderen Seite aber war es auch sehr eng. Jeder habe alles mitbekommen. Non-konforme Menschen, auch z.B. Schwule, hatten keine Chance, in dieser Gemeinschaft zu leben. Er könne da ein ganzes Buch drüber schreiben.

Beim ersten Besuch in Leonberg war der Vater nicht dabei, nur die Söhne, denn er hatte sich vorgenommen, niemals mehr nach Deutschland zu fahren. Aber nachdem die Kinder dort waren, sei er dann doch neugierig geworden. Er hatte sich vom Interesse der Leute an seinem  Schicksal , das ja schon so lange zurücklag, geschmeichelt gefühlt, und er war dann bei seinem eigenen Besuch auch von den anderen Überlebenden beeindruckt gewesen, die es sich zum neuen Lebensinhalt gemacht hatten, als lebende Historiker, Tour-Führer und Zeitzeugen an Zeremonien teilzunehmen und auf Touren nach Polen mitgenommen zu werden. Der Vater sei also schließlich selber zum professionellen Zeitzeugen geworden -

auch wenn der Sohn nicht glaubt, dass sich die Überlebenden an alles richtig erinnern können, zumal jeder Mensch sehr selektiv Erinnerungen abspeichere. „Mein Vater gab zu, dass er während seiner Lagerhaft so krank war, dass er sich z.T. nicht einmal erinnern konnte, wo er war. Die Erzählung aus der Zeit nach Auschwitz war eine Mischung aus all den Lagern, die er danach durchgemacht hatte.“ Odeds Meinung nach ist es ein psychologischer Mechanismus, der viele Erinnerungen unterdrückt. Deshalb glaubt er auch nicht, dass die Überlebenden, die alten Leute,  sich alle Details und Daten merken und unterscheiden können. Er habe deshalb auch nie versucht, die „echte“ Wahrheit rauszubekommen. Für ihn sei das Große und Ganze entscheidend. Er weiß auch nicht, ob seine Eltern je miteinander über den Holocaust geredet haben.
Oded nimmt an, dass die Überlebenden  so eine Art Überlebensschuld mit sich trugen.

Die Aufarbeitung in Deutschland findet er schon sehr gut und wichtig, aber er versteht nicht die Motivation, die dahinter steht: „die Arbeit ist nur auf die Vergangenheit fokussiert, hat aber mit der Realität, in der wir leben, nichts mehr zu tun, denn wir haben andere Probleme. Deutschland tut das nicht für uns sondern für seine eigene Gesellschaft.“


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